Erinnerungen an meinen Mann Günter Radestock

Mein Mann Günter Radestock wurde am 31. August 1925 in Leipzig geboren. Sein Vater war Mechanikermeister mit eigenem Fahrradgeschäft, die Mutter Telefonistin.

Günter und sein zwei Jahre älterer Bruder Werner hatten eine glückliche Kindheit. Sie überstanden auch die üblichen Kinderkrankheiten wie Masern, Keuchhusten und Ziegenpeter. Mit 2 Jahren allerdings war Günters linker Arm durch Kinderlähmung völlig bewegungsunfähig geworden. Durch jahrelange Übungen wurde er dann jedoch wieder voll einsatzfähig.

Seine Jugendzeit durchlebte Günter in Schkeuditz bei Dessau, wo sein Vater als Konstrukteur bei einer schwedischen Zündholzfabrik beschäftigt war. Als Naturfreund hielt er sich in seiner Freizeit besonders gern auf den Elbwiesen und im gegenüberliegenden Wörlitzer Park auf und beobachtete hier Tiere und Pflanzen.

Günter war in der Grundschule ein guter Schüler. Der Besuch einer höheren Schule war ihm des Geldmangels seiner Eltern wegen nicht möglich; seinem Bruder Werner wurde sie jedoch zuteil. Dieser Bruder, Jahrgang 1922, war immer ein Vorbild für ihn. Er ist als Offizier der Panzertruppen am Ende des 2. Weltkrieges in Rumänien als vermisst gemeldet und seitdem verschollen.

Günter wurde in Coswig / Elbe zunächst Rechtsanwaltsgehilfe beim Anwalt und Notar Dr. Brietenhahn und hat dabei viel Allgemeinbildung in dessen Bibliothek erworben; außerdem nahm er nebenbei noch Stunden an der Abendschule.

Durch Lesen vielfältiger Literatur schulte und bildete sich mein Mann in der Folgezeit selbst. Er bevorzugte klassische Musik besonders beeindruckte ihn der Gefangenenchor aus Nabucco. Mit einer kräftigen Stimme begabt hat er auch selbst gern gesungen und spielte. Mundharmonika.
Als Kind sprach er einen sächsischen Dialekt, wie er im Ort üblich war; später war davon nichts mehr zu merken.

Trotz des Muskelschwunds am linken Oberarm nahm er in den Schulferien an einer Segelflugausbildung mit bestandener Abschlussprüfung in Ballenstedt am Harz teil.
Im Winter war seine Lieblingsfreizeitbeschäftigung das Schlittschuhlaufen auf dem Teich in der Nähe des Hauses in Coswig / Elbe.

Die beiden Brüder waren große Tierfreunde sie hielten Vögel, Mäuse, Hamster und jeder eine eigene Katze. Einmal wollten sie ihre Katzen in der Waschwanne der Mutter baden und probierten sogar, ob sie im großen Teich mit ihnen gemeinsam schwimmen konnten.

Den damaligen Reichsarbeitsdienst absolvierte Günter mit einer Fahrzeugprüfung für LKW und PKW. Nach der Grundausbildung diente er bei der Wehrmacht als Unteroffizier, Offiziersanwärter, Fahnenjunker und Flugzeugführer. In Frankreich war er zunächst bei der Flugabwehr eingesetzt und erlitt dabei 1944 Splitterverletzungen und eine Rauchgasvergiftung. Dann tat er Dienst als Jagdflugzeug Pilot zur Abwehr alliierter Bombenflugzeuge.

Bei einem dieser Einsätze wurde Günter über Frankreich abgeschossen. Er überlebte den Flugzeugabsturz, wurde verletzt gefangen genommen, seiner Uniform und Auszeichnungen beraubt und kam bei Kriegsende in Kriegsgefangenschaft zunächst bei den Amerikanern, dann bei den Franzosen. Die dort gefangenen deutschen Soldaten mussten in einem großen Lager in Erdlöchern hausen ohne Decken, warme Kleidung und mit unzureichender Nahrung. Sie haben sich von Gräsern, Regenwürmern, Igeln, Feldhamstern und Mäusen ernährt; viele sind unter diesen Umständen verhungert.
Mit seinem damaligen Flieger- und Gefangenenkameraden Fritz Schroll, welcher später in Graz Medizin studiert hat und dort an einer Klinik als Präparator arbeitete, bestand dann eine Freundschaft bis zu seinem Tod.
Nur noch 47 Kilogramm wiegend wurde Günter 1946 auf Intervention einer Kontrollkommission des Schweizer Roten Kreuzes aus dem Lazarett in Weingarten als nicht arbeitsfähig entlassen er sollte sich von seinen Eltern in der Heimat in Pflege begeben.

Nach Besserung seines Gesundheitszustandes hat er zwischen 1947 bis 1949 an der Arbeiter und Bauernfakultät (ABF) in Halle / Saale das Abitur nachgeholt.

Weil sein Vater bei den Sozialdemokraten war, trat in die damals neu gebildete SED ein. Er hoffte wie viele andere, auf diese Weise dazu beitragen zu können, ein besseres Deutschland ohne Krieg aufzubauen, und ist durch das Leben in der DDR später bitter enttäuscht worden. Ein überzeugter Genosse wurde er jedenfalls nicht. Leider sagte er meistens, was er dachte das verlogene „Parteichinesisch" war ihm zuwider. Oft habe ich ihn gebeten, im Gespräch mit Freunden oder Bekannten vorsichtiger zu reden ich hatte Angst, ihn zu verlieren: Manch anderer ist in dieser Zeit solcher Reden wegen durch die Russen oder deren deutsche Helfer abholt worden und kam nie wieder.

Nach dem Abitur begann Günter ein Medizin Studium an der Martin Luther Universität Halle / Saale. Er wohnte im Studentenwohnheim im Hotel Hamburg und teilte sich dort mit einem Studien Kollegen ein Zimmer.
Leider brach er nach einer schweren Erkrankung, die als Folge der Kriegsverletzungen und Gefangenschaftsbedingungen auftrat und durch eine Virusgrippe mit Gehirnhautentzündung verstärkt wurde, sein Studium nach dem Physikum ab. Unter dieser Entscheidung hat er dann sein Leben lang furchtbar gelitten.

In Diemitz bei Halle/Saale lernte während einer Tanzveranstaltung zum Oktoberfest am 22. Oktober 1949 mich, Lydia Rosenkranz, kennen.
Am 11. August 1951 haben wir dann im Barackenlager Diemitz, wohin es mich als vertriebene Sudentendeutsche verschlagen hatte, geheiratet.
Am 21. Dezember 1951 wurde unser Sohn Klaus geboren, und sechs Jahre später, am 21. Januar 1957 - als Frühgeburt - unsere Tochter Petra.

Ich habe Günter als lebenslustigen, immer zu Späßen aufgelegten Menschen kennen gelernt. Er spielte gut Mundharmonika, erzählte viele Witze, besuchte gern Faschingsveranstaltungen, zu denen er seine Masken selbst herstellte ...
Günter konnte gut zeichnen nach einem Foto malte er z.B. mein Praskowitzer Elterhaus als Aquarell. Das Bild hängt noch heute in meinem Wohnzimmer an einem Ehrenplatz.

Er las gern und viel (später stand unsere Wohnung voller Bücher über Geschichte, Politik, Philosophie, Humor ...) und war auch schriftstellerisch tätig so hat er, gestützt durch eigene Beobachtungen, eine Abhandlung über den Zug der Störche verfasst und auch Gedichte geschrieben. Eins davon aus dem Jahre 1950 möchte ich hier vorstellen:

Beine

Beine haben dann und wann
hinten auch mal Waden dran.
Wenig haben Männerwaden
uns zum Anblick eingeladen.
Läßt ein Mädchenbein sich blicken,
roll´n Männeraugen vor Entzücken.
Oh, wie sind sie oft beglückt,
wenn absichtlich oder ungeschickt,
eine schön bebeinte Maid,
über´s Knie verschiebt ihr Kleid.
Wie die Beine weitergeh`n,
wollt ihr bei euch selbst beseh´n.
Denn es soll hier unterbleiben,
sie noch weiter zu beschreiben.
Erstens dacht' ich sorgenvoll,
wie das Thema enden soll.
Zweitens kam ich obendrauf:
Wenn´s am schönsten wird, hör auf.

Nach dem Studienabbruch war Günter im Anschluss an eine entsprechende Ausbildung fünf Jahre als medizinischer Fach Präparator im Hygiene Museum Dresden tätig.
Diese Arbeitsstelle hat er nur bekommen, weil er bei seinen Eltern wohnen konnte, die inzwischen von Coswig nach Radebeul bei Dresden übersiedelt waren. Somit brauchte er keine Wohnung beanspruchen das musste er wegen der zerstörungsbedingten Wohnungsknappheit in Dresden sogar unterschreiben.

Damals, angeregt durch seine Arbeit am Hygiene Museum, entwickelte sich sein Forscherdrang auf dem Gebiet der Medizin Chemie er unternahm in der elterlichen Wohnung erste Versuche mit Plasten. Das Material dazu hat er sich privat in Apotheken besorgt. Dabei erschreckte er einmal die Wohnungsnachbarn durch eine Explosion im Bad.
Im Hygiene Museum in Dresden entwickelte er dann selbständig ein beleuchtetes Herz Modell und andere Ausstellungsstücke, welche er mit einem Zeichen markierte: Alle seine Präparate wurden seitdem mit einem Triangel plus Querbalken darunter versehen.

Tierfreund blieb Günter auch in dieser Zeit: Verschiedene verletzte Tiere der Nachbarn wurden von ihm geheilt, und er erwarb sich in Radebeul nach und nach einen guten Ruf als ehrenamtlicher Tierheiler. Unter anderem kurierte er eine abgemagerte zahme Henne, welche Spulwürmer hatte und die nachher zur Freude der Besitzer weiterleben konnte, mit Wintergrünöl.

Ab 1. Januar 1957 hat mein Mann eine Tätigkeit als medizinischer Fach Präparator in der Pathologie des Krankenhauses Stalinstadt (später: Eisenhüttenstadt) aufgenommen. Diese Stadt war erst wenige Jahre zuvor gegründet worden, um Wohnungen für die Arbeiter des neu entstandenen Eisenhüttenwerkes zu schaffen.

Als „Arbeitstier" und Mensch, der sein Hobby zum Beruf machen wollte, gab Günter auch hier sein Bestes. Er hatte oft einen 12 16stündigen Arbeitstag: Um sieben Uhr früh begann seine Arbeit im Institut, vor neun Uhr abends war er selten daheim. Sehr oft wurde es aber 24.00 Uhr oder gar weit nach Mitternacht. Auch seine Jahresurlaube sind meist verfallen wenn er aber einmal wegfuhr, wurde er oft durch seinen Vorgesetzten zurück gerufen. Unsere Familie hat in all den Jahren keine einzige gemeinsame Urlaubsreise gemacht!

Ich weiß leider viel zu wenig über die Arbeit meines Mannes: Er hat natürlich zahlreiche medizinische Fachpräparate gefertigt, wegweisend wohl vor allem auf dem Gebiet des Knochen , Venen und Hautersatzes gearbeitet und auf diesem Gebiet auch Erfindungen gemacht und Patente angemeldet (auch ein Patent zur Kesselsteinentfernung gibt es von ihm), mit (damals neuartigen) Kunstharzeinschlüssen von Spinnen oder Heuschrecken experimentiert ... Noch an seinem Todestag bekamen wir die Anerkennung des Kesselstein Patents aus Berlin in´s Haus.
Günter hat über diese Arbeiten oft publiziert; er war auf seinem Gebiet im In und Ausland bekannt und bekam anerkennende Zuschriften aus aller Welt. Mit Professoren in Jena, Greifswald, Halle / Saale ... hat er im Briefwechsel gestanden.

Glücklich wurde er mit alldem jedoch nicht, denn sein Vorgesetzter machte ihm die Arbeit oft sehr schwer; er fühlte sich ausgenutzt. Zwei Beispiele:
Günter machte eine Entdeckung zur Ohrmuskulatur, durfte sie aber nicht unter seinem Namen veröffentlichen, sondern musste die Frau seines Chefs nennen. Darüber war er natürlich sehr ärgerlich.
Als die Mitarbeiter der Pathologie des Krankenhauses Eisenhüttenstadt 1960 (ich durfte als Ehefrau mitfahren) einen Betriebsausflug nach Prag durchführten, übergab sein Vorgesetzter ein Präparat, an dem Günter in vielen Freizeitstunden gearbeitet hatte, den dortigen Medizinern als Gastgeschenk, ohne den Hersteller auch nur zu erwähnen. Für uns war dann auch kein Platz am Tisch der Delegationen wir haben bei den Reinigungskräften der Pathologie gesessen. Das war sehr deprimierend für meinen Mann.
Man ließ es ihn immer wieder spüren: Kein akademischer Abschluss, kein Titel, nichts wert ...

Das andere Übel war für ihn die Enge des Lebens in der DDR, die Geheimniskrämerei, die ständige Überwachung, der Dogmatismus des Parteiapparats ... Er kam nur schwer an für seine Forschungen notwendige Literatur oder spezielle Materialien aus dem westlichen Ausland, durfte nicht zu Tagungen oder Kongressen reisen ... Wenn ihn Kollegen aus dem „Westen" besuchen wollten, was einige Male geschah, war das immer auch eine Angelegenheit für die „Sicherheitsorgane" und vollzog sich unter „parteilicher Begleitung". Einmal bekam er einen Verweis, weil er versucht hatte, eine seiner Arbeiten ohne staatliche Genehmigung beim Fischer Verlag in der BRD zu veröffentlichen.
Dass er eine Auszeichnung als „Aktivist der sozialistischen Arbeit" und den Anspruch auf die DDR Intelligenz Rente erhielt, konnte das alles nicht wettmachen.

Unter diesen Umständen wurde ihm die Arbeit in der Eisenhüttenstädter Pathologie und das Leben im „Arbeiter und Bauernstaat" mehr und mehr verleidet er kam oft verbittert nach Hause, war oft krank, wurde zeitweise depressiv ...

Günter sind damals aufgrund seines Rufs mehrfach Stellen angeboten worden: Kustos Tätigkeit in Budapest sowie in Graz, Präparatorenstellen in anderen DDR Bezirken, in Westdeutschland, Island, Amerika, Schweden ...
Jeden Versuch einer beruflichen Veränderung wurde jedoch von seinem Vorgesetzten, hinter dem natürlich auch der SED Parteiapparat und der Staatssicherheitsdienst standen, unterbunden sein Wissen war den Genossen wohl zu wertvoll, dem Vorgesetzten (der die Arbeit meines Mannes als die seine „verkauft“ hatte) drohte eine Blamage, das Ansehen des Instituts stand angeblich auf dem Spiel ... In diesem Zusammenhang kursierte an der Pathologie damals auch ein alberner Aberglaube, wonach es dem Institutsleiter Unglück bringen würde, wenn sein Präparator wegginge.

In seinem letzten Lebensjahr hat er dann verbittert und angewidert von dem bösen Treiben versucht, sich völlig neu zu orientieren und Lebensglück und etwas Seelenfrieden in einer handwerklichen Nische doch noch zu finden: Er interessierte sich z.B. für Möglichkeiten, in irgendeinem Betriebsferienheim als Hausmeister zu beginnen, begann nach Feierabend privat Wasserleitungen zu reparieren (und tüftelte dabei sofort an neuen, ungewöhnlichen Lösungen mit Plaste Materialien) und wieder erhielt er einen Verweis.

Ganz verzweifelt reagierte er kurz vor seinem Tod auf die Nachricht vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die CSSR zur gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings" am 21.08.1968. „Verbrecherbande", sagte er immer wieder und meinte Partei und Regierung. Er hatte wohl große Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz gehegt.
Wie es mit ihm weitergegangen wäre, wenn der Tod ihn nicht ereilt hätte ich weiß es nicht! Vermutlich wäre er irgendwann eingesperrt worden oder (nach sowjetischem Vorbild damals eine gängige Variante des Umgangs mit „Gegnern") in einer psychiatrischen Anstalt gelandet.

Auch unser gemeinsames Familienleben gestaltete sich unter diesen Umständen wechselhaft. Der Start in Stalinstadt war aber schön:
Am 1. Juli 1957 bezogen wir Günter, ich und unsere Kinder Klaus und Petra unsere erste eigene Wohnung in der Maxim Gorki Straße 23.
Dann folgten Schicksalsschläge:
Ich war aufgrund der mir bei der Vertreibung aus der Heimat zugefügten körperlichen und seelischen Verletzungen zu krank, um weiter einem Beruf nachzugehen, und musste während vieler Krankenhausaufenthalte die Kinder oft allein oder im Wochenheim lassen.
Klaus hatte sich 1958 in der fußkalten, neben einem Torbogen gelegenen Ofenheizungs Wohnung ein Rheuma geholt, das ihn wochenlang ans Krankenhausbett fesselte.
Petra wurde 1962 von der Bordsteinkante aus in ein fahrendes Motorrad gestoßen und schwer verletzt. Der komplizierte Bruch des Oberschenkels unserer Tochter konnte übrigens ohne die befürchtete Verkürzung des Beins geheilt werden, weil ihr der von Günter erfundene Knochenersatz eingesetzt wurde. Damit lebt sie heute noch.
Reich waren wir damals nicht (und sind es nie geworden): Die ersten Jahre über bestand z.B. unsere Wohnungseinrichtung fast ausschließlich aus Munitionskisten aus dem Kriege, über Räder als Fortbewegungsmittel sind wir nie hinaus gekommen, Kühlschrank oder Fernseher konnten wir uns bis zum Ende der 1960er nicht leisten, gemeinsam in eine Gaststätte essen zu gehen war für uns ein unerreichbares Erlebnis ...

Günter war nur selten für die Familie da wenn er aber mal Zeit hatte, war das für alle eine große Freude. Besonders lehrreich für unsere Kinder gestalteten sich die (seltenen) Abendspaziergänge, das gemeinsame Lauschen des Gesangs der Nachtigallen oder (im Herbst) der Rufe durchziehender Wildgänse ...
Diese Naturbegegnungen für die ganze Familie wurden dadurch ergänzt, dass Günter oft kränkelnde Versuchstiere (Mäuse, Ratten, Kaninchen, Meerschweine ...) aus seinem Institut mit nach Hause brachte, die wir dann gemeinsam wieder aufpäppelten. Einem dieser (allerdings nicht als Versuchstier, sondern aufgrund eines Unglücksfalls in unsere Obhut gekommenen) Pfleglinge, einem kleinen Waldkauz, dem der Schnabel fehlte, hat mein Mann damals zu einem Kunstharz Schnabel verholfen, der auch wunderbar funktionierte.
Im Winter ging es dann ab und an zum Rodeln oder Skifahren in die der Stadt vorgelagerten Diehloer Berge.
Schön waren auch die gemeinsamen Oster Feste mit Kindern, Eltern oder Schwiegereltern und natürlich die Advents und Weihnachtsabende, in deren Vorbereitung Günter stets geheimnisvoll tüftelte und bastelte. Ob Modelleisenbahn Anlagen für den Sohn oder Puppenstube für die Tochter alles wurde damals selbst gebaut.

Am 31. August 1968 seinem 43. Geburtstag ist mein Mann verstorben. Ich gehe davon aus, dass die permanenten beruflichen Ärgernisse seine Depressionen und dann auch körperliche Erkrankungen ausgelöst haben: Erschöpfungszustände, doppelseitige Lungenentzündung, Herzinfarkt, vereiterte Galle, Gelbsucht durch Infektion, Blinddarmdurchbruch mit Bauchfell Vereiterung ...

Anlässlich seiner Aufbahrung in der Eisenhüttenstädter Pathologie rief Günters Mutter Elfriede laut weinend den angetretenen Honoratioren zu: „Ihr Mörder ihr habt ihn umgebracht!" Vermutlich hatte sie recht, wenn sie damit meinte, dass er auf subtile Weise in den Tod getrieben wurde.

Nach seinem Tod begann ein Trauerspiel: Zwei Mitarbeiter der DDR Staatssicherheit waren bei mir in der Wohnung und befragten mich stundenlang immer wieder und in allen Einzelheiten. Es wurden sämtliche entsprechenden Unterlagen und Papiere aus unserer Wohnung mitgenommen auch viele Bücher, weil mein Mann immer Notizen an den Buchrändern machte. Das meiste davon habe ich nicht zurückbekommen. Mir wurde dann nur gesagt, seine Arbeiten hätten eh' nichts getaugt. Daraus sprach wohl vor allem die Enttäuschung: Günter, das weiß ich, hatte vieles gut verschlüsselt ...

Wie mir später von Angestellten der Pathologie erzählt wurde, kam der Vorgesetzte meines Mannes nach dessen Tod in eine peinliche Lage er war in keiner Weise in der Lage, die fachlichen Anfragen zu beantworten, obwohl doch mein Mann angeblich die gesamte Arbeit nicht nur unter seiner Leitung, sondern mit ihm gemeinsam, von ihm angewiesen und kontrolliert ausgeführt hatte.
Inzwischen ist auch dieser Vorgesetzte viele Jahre tot, und ich verzeihe ihm, was er meinem Günter angetan hat. Vergessen aber kann ich es nicht.

Ich bin sehr froh, derzeit eine späte Wertschätzung der Arbeit meines Mannes zu erleben: Nach dem Abriss der Eisenhüttenstädter Pathologie und der vorherigen Auflösung Günters dortigem Präparate Fundus (er stand frei ungeschützt in der Besenkammer!) ist der Pathologe Dr. Stefan Koch vom Humaine Klinikum Bad Saarow nicht nur ein sorgsamer Verwalter der Radestockschen Arbeiten. Er bemüht sich anlässlich von Fachtagungen und mit Ausstellungen auch, Günters Werk der Öffentlichkeit vorzustellen und darauf zu verweisen, dass er zu seiner Zeit so etwas wie ein Pionier der medizinischen Präparation gewesen ist.

Vor vier Jahren hatte unsere Familie die Freude, einer Günter Radestock und seiner Arbeit gewidmeten Ehrung beizuwohnen. Einige Zeit später konnten wir dann auch eine Ausstellung seiner Präparate auf der Burg Beeskow besuchen.

Wenn nun an der Universität Jena gar eine Doktorarbeit über Leben und Werk meines Mannes entsteht, weiß ich: er hat nicht umsonst gelebt und gelitten.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lydia Radestock, im September 2007

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