1938 bis 1945: „Heim im Reich"

1938, nach dem Münchener Abkommen, wurden wir Praskowitzer (wie auch das gesamte Sudetengebiet) "eingedeutscht" und gehörten nun zum „Großdeutschen Reich“.
Als das deutsche Militär damals durch unsere Dörfer fuhr, haben sich aus diesem Anlass nicht alle Leute gefreut oder gar gejubelt. Sie waren aber auch nicht unzufrieden mit dieser Entwicklung, weil: Das nach 1918 ursprünglich versprochene Schweizer Modell des gleichberechtigten Nebeneinanders der Volksgruppen war uns von der tschechischen Regierung nicht annähernd gewährt worden - wir hatten uns seitdem nicht selten als Fremde in der Heimat gefühlt. Die Nationalitäten-Konflikte hatten in den 1930-ern eher noch zugenommen und „schaukelten“ sich merklich auf. Das war auch in unserer Gegend zu spüren, wo die deutsche und tschechischen Jugend besonders in den Gebieten um Lobositz herum bei verschiedenen Gelegenheiten aufeinander los ging und man als Deutscher ab und an auch schon mal beschimpft wurde. Um hier „Flagge“ und Geschlossenheit zu zeigen, zogen beispielsweise wir Praskowitzer Mädchen deshalb demonstrativ oft weiße Strümpfe und Dirndlkleider an, gingen nur in Gruppen wandern und sangen dabei deutsche Lieder.
Diese Entwicklung machte sich damals ein Konrad Henlein aus Asch (Erzgebirge) zunutze, der eine Sudetendeutsche Partei gebildet hatte und damit noch zur Zuspitzung der Situation beitrug.

Vieles wurde 1938 anders: Die (nur für wenige Kinder neu gebaute) tschechische Schule ward geschlossen. Schnell drängten die neuen Machthaber die seit 1919 bei uns in der Verwaltung eingesetzten Tschechen aus den verschiedenen Ämtern in Post, Bahn und staatlichen Betrieben (zum Beispiel der Steinbrüche) und nötigten sie, das Sudetenland zu verlassen.
Im Unterschied zu dem, was uns dann 7 Jahre später widerfuhr, ging das allerdings in den meisten deutschen Dörfern ganz ohne körperliche Gewalt und anscheinend auch ohne Enteignung vor sich - ich erinnere mich, dass diese Leute mit ihrem gesamten Hausrat per Elbkahn, Bahn oder Möbelwagen abgereist sind. Viele Tschechen blieben aber auch bei uns wohnen, wenn sie alteingesessen oder, wie zum Beispiel der spätere Praskowitzer Bürgermeister Sack, mit Deutschen verheiratet waren.

Gleichzeitig kamen aus dem "Altreich" neue deutsche Vorgesetzte als Leihbeamte (oder Karrieristen?) in die „staatstragenden“ Positionen. Nur bei der Post blieben Praskowitzer tätig: Die Wessely Hilde als Beamtin und dazu eine Frau Erd als Briefträgerin.
An einen dieser Reichsbeamten, einen jungen Kulturleiter (den genauen Titel weiß ich nicht mehr) aus Hannover erinnere ich mich noch besonders. Er kam nach Lichtowitz an der Elbe und wollte den umliegenden Dörfern beibringen, noch deutscher als deutsch zu werden. Der Mann versuchte beispielsweise, darauf Einfluss zu nehmen, welche Lieder zu singen und Formulierungen zu gebrauchen wären, wie wir unsere Reigen zu tanzen oder Dorf-Gruppenabende zu gestalten hätten ... Durch sein arrogantes Verhalten war er bei der Bevölkerung nicht beliebt.
Aber dennoch: Auch die eigenen Leute passten sich der neuen Macht an - der Bürgermeister, der Oberlehrer und der (neu eingesetzte) Ortsbauernführer wurden beispielsweise Mitglieder der NSDAP.

Als eine der ersten Maßnahmen erfuhren wir übrigens per Anschlag auf dem Schwarzen Brett an der Gemeinde, dass künftig regelmäßig ein „Eintopfsonntag“ gestaltet werden müsse. Dann wurde jeden Monat einmal mit einer Büchse in jedem Haus eine Solidaritätsspende eingesammelt. Wohin mit diesem Geld passierte, ist mir aber nicht mehr bekannt.
Das alles ging ja noch an, aber über manches waren wir doch erstaunt, denn plötzlich wurde dort auch angeschrieben, dass man aus Schweineschmalz einen guten Brotaufstrich bereiten, aus Zuckerüben Saft herstellen könne; Pflaumen ergäben ein gutes Mus ... Darüber haben die Bauern dann doch gelacht. Denn das war Wissen, was uns von unseren Altvorderen selbstverständlich überkommen ist.

In der Folgzeit konnten wir dann auch nur noch heimlich buttern - von der Milchration, welche uns zustand. Die restliche Milch unserer zwei Kühe war abzuliefern. Wir hatten aber noch die Milch unserer Ziege zum eigenen Verbrauch.
Weil auch die Eierabgabe sehr hoch angesetzt wurde, hielten wir und viele andere Kleinbauern nur noch so viele Hühner, wie uns als Familie gebührten.
Als die Lebensmittelkarten eingeführt waren, wurde sämtliches Viehzeug gezählt - auch Gänse und Kaninchen. Nach dem Schlachten unserer Schweine im Winter mussten wir dieses Fleisch mit den Nachbarn teilen - unter Kontrolle wurde alles abgewogen. Ebenso war nur noch eine bestimmte Menge Getreide erlaubt, welches wir dann in der Mühle zu Broten backen durften.

Als am 1. September 1939 der Krieg begann, gab es noch viel mehr Einschränkungen:
Alle Tanzveranstaltungen wurden abgesagt, und nur ganz selten konnte man noch Sonntags im Elbehotel mal ein Konzert besuchen. Und Kleiderkarten wurden eingeführt; es gab ab sofort nur noch ein Paar Lederschuhe im Jahr ... Nun kamen Holzschuhe auf, die aber auch nicht ganz leicht zu erwerben waren.

1939 geschah dann auch die Gleichschaltung der Jugendorganisationen. Wir wurden übrigens nicht gefragt, ob wir bei den Jungmädels bzw. Pimpfen und Hitlerjugend sein wollten; das war „Gesetz“. Die Veranstaltungen selbst (1x pro Woche Turnen, Wanderungen und Fahrten an den Wochenenden) machten aber meistens Spaß.
Für Jungen und Mädchen begann nach der Schul- oder Lehrzeitzeit der einjährige Arbeitsdienst. Da kam dann das Spottlied auf: „Zwanzig Pfennig pro Stunde Reinverdienst - ein jeder muss zum Arbeitsdienst.“
Etliche Mädchen, besonders solche aus der Stadt, gingen für das eine Jahr auch zu den Bauern als „Pflichtjahrmädel“.
Die größeren Jungs hatten dann bereits den Kriegsdienst vor sich: Viele meldeten sich schon deshalb zu anderen Heeresteilen, weil sie befürchteten, sonst zur SS eingezogen zu werden, die keinen guten Ruf hatte.

Uns störte sehr, dass absichtlich immer dann, wenn eine Messe oder ein anderer kirchlicher Anlass gegeben war, für die Jugend Veranstaltungen angesagt wurden, an denen man teilzunehmen hatte.
Auf die Kirche waren die neuen Machthaber auch so nicht gut zu sprechen. Eines Tages wurde gar unser junger Pfarrer durch die Geheimpolizei abgeholt, weil er für alle Kriegstoten öffentlich in der Kirche gebetet hatte. Er blieb eine ganze Zeit weg, und hat nachher über diesen Vorfall mit keinem Ortsbewohner mehr gesprochen. Wir haben alle gerätselt, wer den beliebten Kirchenmann wohl angezeigt haben könnte.

1940 musste ich als 16-jährige zu meinem großen Kummer meine Skier für den Bedarf der Front abgeben. Mit den anderen Mädchen des Dorfes strickte ich für die Soldaten Strümpfe und verschickte Frontpäckchen an unsere Dorfjungs, welche eingezogen und im Krieg waren.

Während der gesamten Kriegszeit musste in allen Häusern abends das Licht abgedunkelt werden. Auch durfte bei hoher Strafe kein fremder Radiosender gehört werden - besonders Radio London nicht! Sogar heimliche Kontrollen soll damals im Dorf gegeben haben.

Sehr traurig waren die Bekanntmachungen der im Krieg gefallen Männer des Dorfes. Es begann 1940: Brettschneider Franz, Tschernai Franz, Reichelt Willi, (ein sehr begabter Organist), Bittner Kurt ... Vermisst in Stalingrad: Mildner Helmut, Jentsch Fritz. Klausnitzer Hubert ist in Frankreich verschollen. Seifert Otto war auch in Frankreich vermisst und hat sich erst nach vielen Jahren bei seiner Mutter melden können.
Ganz traurig war es, als die Todesnachricht von Nitze Rudi, unserem Nachbarn, eintraf. Rudi war 26 Jahre alt und Bankbeamter. Er sollte eigentlich Hochzeitsurlaub von der Front erhalten, und alles war daheim schon für diesen Tag vorbereitet. Und dann: „Gefallen für Führer, Volk und Vaterland...“. Die Kriegstrauung wurde übrigens doch noch durchgeführt, damit das erwartete Kind (ein Sohn) den Familiennamen Nitze erhält. Seine Braut hatte dann statt ihres Rudi einen symbolischen Stahlhelm neben sich auf dem Stuhl stehen.

Gegen Kriegsende wurde das Leben dann immer unerträglicher – wir merkten auch an der „Heimatfront“: Schreckliches geschieht!
Aufmerk-Zeichen waren Dinge wie die Unbarmherzigkeit der Obrigkeit gegenüber Fremdarbeitern und Gefangenen (die Bauern durften ihre französischen oder englischen Gefangenen nur noch heimlich mit am Tisch essen lassen; den Russen und Polen im Gutshof ging es noch schlechter - sie hausten in einer Kammer über dem Viehstall), das Erscheinen alliierter Bomber und Tiefflieger im Elbtal, das Verschwinden eines geistesschwachen Dorfbewohners aus Praskowitz und jüdischer Sudetendeutscher aus Nachbarorten, das Auftauchen der ersten Ostflüchtlinge (die Grausiges zu erzählen hatten), die geflüsterten Mitteilungen meines Vaters über Theresienstadt ...

Mein Vater Franz war als Streckenwärter bei der Reichsbahn tätig und hatte von 1944 bis 1945 auch den Abschnitt um Lobositz zu versorgen, wo die Transporte für dieses Konzentrationslager umgeleitet wurden. Von den dortigen Zuständen hatte die Bevölkerung rings um die ehemalige Festung keine Ahnung.
An einigen seiner Diensttage kam er am Abend ganz niedergeschlagen nach Hause und deutete uns an, was er auf dem Verschiebe-Bahnhof hatte mit ansehen müssen und wie grausam die begleitende SS-Mannschaft die Menschen behandelte. Eines Tages fand er auf den Gleisen sogar einmal ein Kinderärmchen – abgequetscht wohl beim Zuschlagen der Waggontür.
Vater meinte damals: Wenn das einmal anders kommt und die Deutschen diesen Krieg verlieren, was wird dann mit uns geschehen?!

Er hat recht gehabt, und doch nicht das ganze Unheil voraussehen können, das uns dann ereilten sollte.


Lydia Radestock, im Oktober 2004

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