Bestrafung eines „Kirschendiebes“ im Juni 1945

Im Juni 1945 wurden auch in Praskowitz die brutalen Verfolgungen der Einwohner durch die Sieger und diejenigen, die sich jetzt dafür hielten, nach und nach Alltag. Eine Zeit des Grauens hatte für uns begonnen, die ich nie vergessen werde und die mich seitdem bis in meine Träume hinein peinigt. Erst jetzt, nach fast 60 Jahren, finde ich den Mut, darüber zu schreiben.
Wie es damals bei uns zuging, sei einmal an der „Bestrafung“ eines Kindes geschildert, die ich selbst mit ansehen musste:

Am ersten Junisonntag 1945 kam ein etwa 12jähriger deutscher Junge aus Kletschen im Böhmischen Mittelgebirge zu seinen Praskowitzer Verwandten ins Elbetal. Er wollte wie in jedem Jahr Kirschen bei ihnen abholen, und in den heißen Frühlingstagen nach Kriegsende waren diese Früchte in unserem warmen Elbtal auf den Feldern besonders schnell gereift.
Als er unterwegs an den Obstbäumen seiner Verwandten vorbei kam, pflückte er sich voller Vorfreude schon eine Hand voll Kirschen. Dabei wurde er aber von einem der seit Mai von irgendwoher in unser Dorf gekommenen Tschechen ertappt, welcher sich nun als neuer Besitzer der Bäume fühlte. Der Mann brachte den Jungen in den Ort.
Auf dem Dorfplatz wurde dem Kind auf Anordnung der neuen Obrigkeit eine Hakenkreuzfahne um den Leib gewickelt und ihm ein Besen in die Hand gedrückt, mit dem er die Dorfstraße immer wieder neu fegen musste. Wenn er aber an deren Ende anlangte, wurde er dort von einem Tschechen mit einer Knute geschlagen, an deren Strick-Enden Bleikugeln befestigt waren. Und auch an dem anderen Ende erwartete ihn ein Tscheche mit so einer Knute ...
Diese Tortur hat der Junge natürlich nicht lange ausgehalten. Als er bewusstlos zusammenbrach, schüttete man einen Eimer Wasser über seinen Kopf. Dann durften ihn seine Verwandten abholen. Ich denke, er hat überlebt.

Das war aber alles nur der Anfang, war gar nicht so schlimm. Weil: Es kam dann viel, viel schlimmer!

Damals begann wir zu begreifen, was auch uns Praskowitzern noch bevorstehen sollte.


Lydia Radestock, im Juni 2004

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