Der Eisberg im Elbetal

Östlich meines Heimatdorfes Praskowitz, auf der anderen Elbseite, steht ein Berg, der mir in meiner Kindheit und Jugend besonders ans Herz gewachsen ist: Der Eisberg. Die ersten Sonnenstrahlen kamen schon früh am Morgen von dort hervor, denn die Sonne ging ja im Sommer hinter dem Eisberg auf. Wenn sie ungefähr über der Elbe am Himmel oben stand, dann war es Mittag. Am Abend sendete sie ihre letzten Strahlen dann von der Kubatschke auf unser Dorf herab.

Ich weiß noch: Meine Großeltern und die Eltern orientierten sich jeden Morgen mit einem schnellen Blick auf den Eisberg und die Art, wie die Sonne hinter ihm hoch stieg, und folgerten daraus den Wetterverlauf. Das war oft sehr wichtig für die geplanten landwirtschaftliche Arbeiten, denn: Der Eisberg war ein „Wettermacher“. Kam ein Unwetter vom Berg her, dann zündete Großmutter immer die Wetterkerze an. Meistens wurde es dann schlimm - mit Hagel und starkem Regen. Denn das Gewitter kam nicht gleich über die gegenüberliegende Kubatschke hinweg und tobte sich in unserem Elbtal-Kessel aus. An einen solchen Wolkenbruch an einem Sonntag im Mai 1930, den ich als Kind erlebte, kann ich mich noch gut erinnern. Mein Vater hatte soeben vorsichtshalber den Gullideckel der Kanalisation vor unserem Haus auf der Straße entfernt und wollte auch noch den Deckel im Hof öffnen. Er schaffte es gerade noch, als das Unwetter losging, denn sonst wäre das Regenwasser bis zu unserer Haustür herein gekommen. Der ganze Hof war damals mit Hagel bedeckt. Die Naturgewalten hatten fast die ganze Baumblüte, welche immer von den Sommerfrischlern bewundert wurde, vernichtet. Damit fiel auch die Obsternte ins Wasser -  Aprikosen, Kirschen, Birnen,Pflaumen ... gab es zur Erntezeit nur wenige in diesem Jahr.

Manchmal - bei günstigem Wetter - war der Eisberg ganz nahe zu sehen. Er wirkte übrigens merkwürdig kahl, denn anfangs der 1920er Jahre wurden die dortigen Kiefernwälder durch die Nonne, einen Falter, fast vernichtet, und seitdem nicht wieder vollständig aufgeforstet.

Auf dem Eisberg ist in einer kleinen Höhle das ganze Jahr, auch im Sommer, etwas Eis vorhanden. Deshalb haben unsere Vorfahren dem Berg diesen Namen gegeben.

Als mein Vater 1899 in der Dorfschule Praskowitz die erste Klasse besuchte, fragte einmal der Lehrer die Kinder, wo denn die Sonne aufgehe. Schnell meldete sich sein Freund Emil: „Die Sonne geht neben dem Eisberg auf und hinter dem Scheinberg neben der Kubatschke unter.“ Emil wunderte sich, warum die anderen Schüler lachten, denn - es stimmte doch. Der Lehrer aber wollte natürlich wissen: Sie geht  im Osten auf und im Westen unter.

Von den Bergen rings um unser Elbetal, dem Eisberg, dem Lobosch ... habe ich 1945 bei unserer gewaltsamen Vertreibung wehmütig Abschied genommen. Wenn das Heimweh mich in den Jahren danach wieder einmal besonders überkam, dann sah ich immer meine geliebten Berge und die Elbe vor mir, wie sie aus der Böhmischen Pforte heraustritt.

Nach 45 Jahren, bei meinem ersten Besuch in der Heimat, musste ich weinen bei dem, was ich sah: Das ehedem schöne Panorama meiner Kindheit und Jugend war verschwunden, durch zahllose Steinbrüche verunstaltet. Wie ausgehöhlte Zähne sahen die Berge ringsherum aus. Der Debus auf unserer Elbeseite, auf dem wir früher unsere Sonnwendfeuer abhielten, ist schon ganz verschwunden. Auf der Kubatschke treibt man von Dubkowitz aus einen riesigen Steinbruch schon fast bis zu Drei Tannen voran. Auf der anderen Elbseite sind Deblick und Winterberg völlig ausgehöhlt; fast geht der Steinbruch bis an den Eisberg heran. Abraumhalden verunzieren die Landschaft.

Es bleibt mir nur die Erinnerung!

Lydia Radestock, im Juni 1997

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