Flüchtlinge im Dorf

Weil Ende des im zweiten Weltkrieges die Front näher rückte, kamen ab 1944 immer wieder Trecks deutscher Flüchtlingen mit Pferdefuhrwerken aus den Ostgebieten durch unser Elbetal im Sudetenland.

Diese Menschen waren oft schon wochenlang unterwegs. Manchmal wurden ihnen im Dorf Quartiere bereitet; verschiedene Familien konnten bei den Bauern eine Stube bekommen. Andere wieder hatte man im Elbe-Hotel untergebracht.

Einmal hatten wir auf diese Weise sogar eine schlesische Gräfin bei uns im Dorf, welche die Pferden ihres Gestüts mit sich führte. Sie klagte, dass sie wegen Futtermangels schon einige wertvolle Tiere hat verkaufen müssen.

Eine Frau Brunner, welche im Gemeindehaus in der Mütterberatungsstelle neben dem Feuerwehrschuppen wohnte und die mit ihrer Familie aus dem Banat geflüchtet war, kam manchmal, um sich Milch zu holen und sich mit uns zu unterhalten. Sie erzählte uns von ihrer Heimat und der beschwerlichen Flucht: Wie sie unterwegs bei einem Luftangriff mit Tieffliegerbeschuss ihren Pferdewagen verloren hatte, dabei auch noch ihre 18 jährige Tochter verunglückte ...

Bei diesen Flüchtlingen waren oft auch Waisenkinder. Ich erinnere mich besonders gut an drei von ihnen - zwei Mädchen (10 und 16) und ein 6jähriger Junge, welche unterwegs während eines Luftangriffes ihre Eltern verloren hatten.
Meine Mutter hatte damals im Dorf die Mütterberatungstelle zu betreuen; sie kümmerte sich um die Säuglinge ... Weil jetzt mehr und mehr auch solche Flüchtlingskinder zu betreuen waren und das jüngste von den drei Geschwistern keine richtige Pflege in dem kalten Hotelzimmer haben konnte, brachte sie alle drei zu uns. Die Mädchen schliefen bei mir in der Kammer im Bett meines Bruder (er war ja 17jährig zur Marine eingezogen worden). Der kleine Robert konnte auf dem Sofa in der Stube schlafen.
Bald stellten wir allerdings fest, dass nun alle Hausbewohner Läuse hatten. Mutter machte deshalb für uns alle einige Tage lang einen Umschlag mit Petroleum, und hinterher waren mit dem Läusekamm noch einige Zeit die Nissen zu entfernen.

Alle diese Flüchtlinge wurden von den Tschechen 1945 als erste im Juni aus dem Dorf verjagt. Angeblich sollten sie in ihre Heimat zurück gefahren werden. Wie wir aber einige Jahre später bei Heimattreffen erfahren haben, wurden viele von diesen Menschen als Zwangsarbeiter nach Sibirien gebracht und sind dort gestorben.

Lydia Radestock, im Januar 2001

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