Frühling 1945: Gefangene im Dorf

Im Mai 1945, gleich nach Kriegsende, wurden auf der unseren Ort Praskowitz durchquerenden Landstraße Lobositz - Aussig große feldgraue Kolonnen deutscher Kriegsgefangener vorbeigeführt. Welchem Schicksal marschierten diese erschöpften Menschen entgegen, die sich oft gegenseitig stützen mussten, um nicht zurückzubleiben und erschossen zu werden? Viele lahmten, weil man ihnen die Schuhe abgenommen hatte. Oftmals riefen diese Soldaten: „Wasser, Wasser“, denn es waren warme Frühlingstage. Von der neuen tschechischen Verwaltung war uns Dörflern aber bei Strafe verboten worden, ihnen etwas zu essen oder zu trinken zu gegen. Man musste ganz schnell sein, um heimlich eine Flasche Wasser oder ein angefeuchtetes Tuch zu reichen – die russischen Bewacher erlaubten es manchmal, die tschechischen niemals.

Auch große Herden in den Dörfern der Umgebung requirierter Kühe wurde um diese Zeit dort entlanggetrieben, um auf dem Praskowitzer Bahnhof verladen und dann irgendwo geschlachtet zu werden. Außer den bewachenden Russen oder Tschechen sah man verängstigte junge Mädchen oder Frauen sowie 13 bis 14 jährige Jungs mitlaufen, die die Tiere unterwegs zu melken hatten. Ich konnte den aus den Dörfern wahllos Mitgeschleppten ansehen, welches Leid sie auf diesem Zug erleben mussten. Auch sie flehten uns um Wasser an. Ihnen zu helfen war aber noch riskanter – man lief stets Gefahr, einfach mit eingereiht zu werden. Das ist wohl auch oft geschehen, wenn einer der unfreiwilligen Melker hatte fliehen können, denn die Gefangenenzahl musste ja stimmen.
Ich habe solch einen kindlichen „Beute-Viehhirten“ später einmal über sein weiteres Schicksal (es ereilte ihn aber nicht im Sudetenland, sondern in seiner Heimat Schlesien) befragen können: Günter Kiss, ein Eisenhüttenstädter Kollege meines Mannes, war als 13jähriger durch Soldaten der Roten Armee auf der Straße aufgegriffen worden. Man hat ihn dann mitsamt dem Vieh nach Russland gebracht. Er kam erst fast 10 Jahre später tuberkulose-krank von dort zurück. Seine Eltern haben die ganze Zeit nichts von ihm erfahren können und hielten ihn für tot.

Ich erlebte dieses ganze Gefangenen-Elend von unserem Balkon aus, von dem ich bis zur Straße sehen konnte. Hinaus wagte ich mich angesichts dieser Zustände sowie der Gräueltaten der Roten Armee und der siegestrunkenen Tschechen, von denen die Flüchtlinge erzählt hatten, kaum noch. Wir Praskowitzer (die Flüchtlinge waren sofort nach Kriegsende des Dorfes verwiesen worden) waren ja in diesen Tagen auch nichts weiter als Gefangene im eigenen Dorf, durften uns selbst im Ort nicht mehr frei bewegen. Außerhalb seiner Wohnung hatte jeder Deutsche hatte ständig eine weiße Armbinde zu tragen, die immer wieder eine andere Breite haben musste. Dadurch waren wir auf dem Weg zur Arbeit im Feld oder in der Fabrik gut zu erkennen und leichte, rechtlose Beute für die der Willkür, den Hass und den Sadismus der neuen Herren.

Und eines Tages, um Anfang Juni 1945, begann die Jagd der Sieger nach Frauen und Mädchen, Vieh, Hausrat und Wertgegenständen aller Art dann auch in unserem Dorf, waren schreckliche Menschenjagden, Morde, Vergewaltigungen, Folterungen und Plünderungen plötzlich Alltag ...
Nicht ohne Grund fühle ich mich also verhöhnt, wenn heute, fast 60 Jahre später, diese Zeit durch Politiker und Medien pauschal als „Befreiung“ bezeichnet wird. Wir empfanden in diesen Maitagen 1945 zunächst zwar durchaus Erleichterung über das Ende des Krieges und der Gewaltherrschaft der Nazis.
Was dann jedoch rasch folgte und am Schluss in staatlich organisierter, brutal durchgeführter Vertreibung und Enteignung mündete, war uns vorher eigentlich nur aus den Schilderungen der Schrecken des 30jährigen Krieges bekannt gewesen. Es war für uns, soweit wir überlebten, der totale Zusammenbruch all dessen, was unser Leben bis dahin ausgemacht hatte.
 

Lydia Radestock, im Mai 2003

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