Geburtstag 1945: Einmarsch der
Russen in Praskowitz
Am 11. Mai gedenke ich alljährlich des Geburtstags meiner Mutter: sie
wurde am 11. 5. 1899 in Birnai an der Elbe als 5. Tochter des Bauern
Franz Schimke geboren.
Vor ihr waren noch zwei Söhne; vier Geschwister sind an Diphterie und
Scharlach verstorben.
Der 11. Mai steht in meiner Erinnerung aber auch noch für etwas anderes
– die ersten Russen in unserem Dorf im Jahre 1945, also vor nunmehr 67
Jahren.
Es war ein sonniger Tag, als nachmittags vom Gebirge herunter ein
kleiner Trupp dieser erdfarben gekleideten Soldaten nach Prasowitz kam.
Sie wollten wohl den Weg nach Aussig abkürzen und hatten sich in der
Nähe von Dubkowitz auf der Paschke Pole (so heißt die Hauptstraße von
Teplitz nach Lobositz) verirrt. Deshalb kamen sie nun auf Feldwegen
unterhalb des Berges Kubatschke und so natürlich auch an unserem Haus
vorbei.
Die Rotarmisten klopften und baten (!) meinen Vater um Wasser und
Auskunft, wie sie zur Elbe gelangen konnten - sichtlich froh, dass ihnen
endlich ein Bürger in gutem Russisch antwortete.
Diese Russen wollten an dem Fluss entlang bis nach Aussig gehen, um sich
dort bei der Kommandantur melden zu können.
Dazu muss ich sagen: Mein Vater hatte diese Sprache während seiner
mehrjährigen Gefangenschaft im und nach dem Ersten Weltkrieg in Sibirien
erlernt. Er war in den 19-vierzigern Dolmetscher bei der Reichsbahn in
Lobositz, wo es darum ging, die Verständigung mit kriegsgefangenen
Russen zu ermöglichen. Vater hatte von ihnen zum Abschied eine
Bescheinigung erhalten, dass er sich immer menschlich betragen hätte. Er
zeigte dem Offizier nun diese russische Bescheinigung.
Sie ist leider nicht mehr im Besitz unserer Familie: von den jungen
Tschechen wurde sie uns bei unserer Vertreibung abgenommen und auf dem
Marktplatz demonstrativ zerfetzt.
Einige Praskowitzer Frauen waren kurz vor diesem Vorfall zu einem
geburtstäglichen Beisammensein mit meiner Mutter gekommen - für eine
richtige Feier fehlte in diesen Tagen allen Dorfbewohnern der Mut.
Zuerst wurde von uns an die im 2. Weltkrieg gefallenen Männer, Jungen
und Vermissten des Dorfes gedacht, und wir beteten für sie:
Brettschneider Franz 29 Jahre, Nitze Rudi 25 Jahre, Tschernai Franz 21
Jahre, Reichelt Willi 20 Jahre, Mildner Helmut 22 Jahre, Erd Franz 22
Jahre, Laube Ernst 23 Jahre, Dunkel Josef 28 Jahre, Seifert Otto 21
Jahre (vermisst), Bauer: Jentsch Franz 33 Jahre (vermisst), Jenitschek
Karl 30 Jahre (vermisst), der Gastwirt zur Obstbörse 40 Jahre (vermisst)
…
Auch mein Bruder Franz Rosenkranz, Kriegsfreiwilliger und Matrose,
gehörte mit seinen 18 Jahren zu den Vermissten. Wir bekamen erst ein
Jahr später von Bekannten eine Nachricht, dass er noch lebt und in
englischer Gefangenschaft war.
Wir fragten uns bei unserem Beisammensein, auch in Erinnerung an die
Turbulenzen nach dem Ersten Weltkrieg, bange: wie wird es nun uns
deutschen Einwohnern des Dorfes in dem wieder begründeten tschechischen
Staat ergehen?
Als wir dann von der Stube aus die Russen im Hof im Gespräch mit unserem
Vater sahen, flüchteten alle in ein Versteck auf unseren Heuboden. Denn
wir zitterten alle vor Angst vor den Russen, und es gab keine Frau im
Dorf, die sich nicht ein Versteck vorbereitet hatte.
Warum taten wir das?
Von den Flüchtlingsfrauen aus Schlesien, die in den letzten Wochen und
Monaten nach Praskowitz gekommen waren, hatten wir Entsetzliches über
diese Soldaten, die man später pauschal als „Befreier“ feiern sollte,
gehört - wie sie plünderten, vergewaltigten, folterten, mordeten und
dabei sogar die Kinder nicht verschonten.
Als dann der Russentrupp unserem Hof verlassen hatte, ward Entwarnung
gegeben, und jede kehrte auf ihr Gehöft zurück. Den
Geburtstags-Blumenstrauß meiner Mutter brachte mein Vater anschließend
in unsere Kirche zum Marienaltar.
Das erste Zusammentreffen mit der Roten Armee war also für uns
Praskowitzer glimpflich abgegangen.
Das sollte leider nicht so bleiben. Dennoch muss ich sagen, dass ich in
den folgenden Wochen die Russen weniger als Gefahr (von einem schlimmen
Vorfall abgesehen) erlebte denn als neue Obrigkeit und sogar Beschützer
vor den schrecklichen Verfolgungen aller Deutschen durch die neuen
Tschechen im Dorf.
Aber das ist schon eine andere Geschichte.
Lydia Radestock, im Mai 2012 |