In der Hölle: Internierungslager Lerchenfeld

Den 17. Juli 1945, es ist genau 59 Jahre her, werde ich wohl nie vergessen: Es war nicht nur der Tag der brutalen Vertreibung der Praskowitzer Einwohner aus ihrer Heimat, sondern für einen Teil von ihnen auch die Fortsetzung entsetzlicher Demütigung und Quälerei.
Als die unter uns für die Zwangsarbeit im Internierungslager Lerchenfeld ausgewählten Frauen, Männer und Jugendliche (keine Soldaten!) von der Menge der auf dem Dorfplatz Zusammengetriebenen getrennt wurden, ahnten wir noch nicht, was für ein schreckliches Dasein diesen unschuldigen Leuten bevorstand, das viele gesundheitlich geschädigt oder gar nicht überleben sollten.

Unter den Ausgesonderten und damit gleichsam Verurteilten war auch mein Vater Franz, ein damals 52 Jahre alter Streckenwärter bei der Bahn. Ich vermute, dass der nach Kriegsende von den Tschechen eingesetzte Bürgermeister namens Sack diese Entscheidung aus Rache dafür veranlasste, dass Vater sich (sogar unter der Folter) in den Vorwochen hartnäckig geweigert hatte, mein Versteck an die mädchen-jagenden russischen Besatzungssoldaten oder tschechischen Plünderer zu verraten. Vielleicht aber war er den Vertreibern nur als rüstiger und damit besonders zwangsarbeitstauglicher Mann aufgefallen.
Ich werde es nie erfahren.

Da heute nicht selten so getan wird, als wären in den damals (oft in den alten KZs der Nazis) für Deutsche eingerichteten Internierungs- und Zwangsarbeitslagern nur „Faschisten“ eingesperrt und umgebracht worden, die ihr verdientes Schicksal erlitten, möchte ich am Schicksal zweier Frauen schildern, wie wenig damals in einer Atmosphäre von Hass und Rache dazu gehörte, als „schuldig“ betrachtet zu werden:
Weil der auch zu den „Ausgesonderten“ zählende Obsthänder Ernst Trödel (51) nach einer Magenoperation erst seit einigen Tagen wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, wollte ihm seine Frau am Bahnhof eine warme Jacke übergeben. Die Jacke wurde ihr genommen, und sie musste mit ins Lager. Ebenso ging es der Tochter des Viehhändlers Klausnitzer (50), die ihrem Vater ein paar Nahrungsmittel mit auf den Weg geben wollte.

Mein Vater, der nach einem Jahr aus dieser Hölle wieder entlassen wurde und 1946 zu Mutter und mir nach Sachsen/Anhalt fand, wo wir inzwischen „gestrandet“ waren, hat von dieser Zeit nie viel gesprochen. Es war, als wäre er in der Erinnerung an das Geschehene gelähmt.
Folgendes blieb mir jedoch aus Erzählbruchstücken in Erinnerung:

Der Trödel Ernst starb eines grausamen Todes. Eines Tages, als einige Insassen wieder einmal unter den Knutenschlägen der Aufseher auf dem Bauch liegend mit den Ellbogen über den Appellplatz robben mussten, versagten ihm, der neben meinem Vater lag, die Kräfte. Er war ja nach seiner Operation noch nicht auskuriert und deshalb geschwächt. Da sprang ihm ein Aufseher mit Wucht auf den Rücken. Die Operationsnarbe platzte, seine Därme ergossen sich in den Staub ...
Das alles geschah vor den Augen der am Appellplatz angetretenen Frauen, die wohl mit solchen „Schauspielen“ zusätzlich gedemütigt und gebrochen werden sollten. Nicht ohne Erfolg: Frau Trödel, die den Mord an ihrem Mann auf diese Weise mit ansehen musste, kam ein Jahr später aus Lerchenfeld geistig verwirrt nach Deutschland zu ihrer Tochter zurück.

Auf ähnliche Weise oder vor Hunger, Entkräftung und Kälte starben in Lärchenfeld aus unserem Dorf dann noch Ernst Laube, der 17jährige Neffe der Trödels, Franz Gaterschabeck, und einige andere. Auch mein 19jähriger Cousin Heinz Sieber, seitdem verschollen, dürfte dort sein Ende gefunden haben.

Und auch das gab es: Weil am Weihnachtsabend 1945 bei einem Appell festgestellt wurde, dass ein Mann geflüchtet war, wurde als „Vergeltung“ einfach ein Junge unter den Gefangenen ausgewählt und vor allen anderen erschossen.

Nachdem ein leitender deutscher Arzt des Aussiger Krankenhauses diese Grausamkeiten dem Roten Kreuz berichtet hatte und deshalb eine Schweizer Delegation das Lager überprüfte, wurde auch er am nächsten Tag in Lerchenfeld grausam umgebracht. Das ganze Lager hörte seine Schreie; es dauerte sehr lange, bis er tot war. Denn die Aufseher waren in der Wahl ihrer Folter- und Tötungsmittel sehr erfinderisch. Sogar Kreissägen hat man wohl dazu missbraucht.

Die Lagerinsassen mussten zur Zwangsarbeit täglich in einer Kolonne bis nach Schreckenstein zu den Schichtwerken laufen. Unterwegs wurden sie in der Stadt Aussig ständig von der inzwischen neu angesiedelten tschechischen Bevölkerung angegriffen und gequält. Besonders schlimm war es an dem Tag, als in Schönpriesen das Waffendepot explodierte - da wurden die Männer im Schichtbad mit kochend heißem Wasser „geduscht“.

Mein Vater hat uns nach dem Wiedersehen auf seinem Rücken die Narben gezeigt, welche die an den Knuten befestigten Bleikugeln hinterlassen hatten waren. Bei geringstem und auch völlig ohne Anlass wurde damit geschlagen. Sein linker Ellenbogen war danach so verletzt, dass er den Arm später nie mehr richtig gebrauchen konnte.
Vater sagte später einmal, so etwas hätte er nicht mal in Russland nach dem ersten Weltkrieg erlebt, als er dort bei der Rückkehr aus sibirischer Kriegsgefangenschaft mehrmals zwischen die Fronten des Bürgerkrieges zwischen „Roten“ und „Weißen“ geriet.

Es gab neben meinem Vater sehr viele Zeugen dieser Grausamkeiten an unschuldigen Menschen, wie sie damals im Lager Lerchenfeld und anderswo im Sudetenland begangen wurden. In der DDR konnte und durfte man freilich nur hinter vorgehaltener Hand davon sprechen. Wir haben es im engsten Kreise einer kleinen Gruppe in Halle untergekommener Sudetendeutscher manchmal getan, um nicht an diesem Wissen zu ersticken.
Ich habe allerdings meinen Kindern vor 1990 nie geschildert, was unsere „Umsiedlung“ (das war der damals erlaubte Begriff für das ganze Ausmaß von Vertreibung, Vergewaltigung, Enteignung, Raub und Mord) wirklich bedeutet hatte, um sie nicht in Gewissenskonflikte und Schwierigkeiten zu bringen.

Erstaunt war ich dann aber, als ich auch nach der politischen Wende und unter den Bedingungen eines demokratischen Staates gleichsam ein Tabu über Diskussionen zu diesem Thema verhängt fand. Dass es noch nach Kriegsende Ereignisse gab, die man nicht ausschließlich mit dem Wort „Befreiung“ charakterisieren kann, weil sie Millionen unschuldiger Opfer forderten, dass diese Taten sehr oft aus ganz anderen Gründen als dem verständlichen Rachebedürfnis unterdrückter Völker geschehen sind ... – all das zu erwähnen dürfte mir heute den Vorwurf einhandeln, eine „Ewiggestrige“ zu sein, zu relativieren oder damit die Naziverbrechen zu verharmlosen.

Ich denke aber: Die Wahrheit muss ans Licht; sie lässt sich nicht unterdrücken. Und ich will nun nicht länger schweigen. Auch die deutschen Opfer haben ein Recht auf Trauer, und die nach uns Kommenden einen Anspruch auch auf Wissen um diesen Teil der Geschichte.

Lydia Radestock, im Juli 2004

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