Juli 1945: Reise in´s Nichts

Es war am Spätnachmittag des 17. Juli 1945:

Nach einem gellenden Pfiff, den ich wohl mein Lebtag nicht vergessen werde, setzte sich am Bahnhof meines Heimatortes Praskowitz ein mit etwa mehreren hundert aus den umliegenden Dörfern stammenden fassungslosen Sudentendeutschen besetzter überlanger Güterzug in Richtung Norden in Bewegung.

Es waren dies vor allem Frauen, Kinder und Alte – jene, die nach wochenlangem Drangsal, Quälereien aller Art, Beraubung, Vergewaltigung und Mord bar jeder rechtlichen Grundlage in „wilder Vertreibung“ nunmehr „ins Reich“ abgeschoben wurden.
Immerhin – das waren die „Glücklichen“: Man begnügte sich damit, sie sofort hinauszuwerfen, ohne sie erst noch in eines der wie Pilze aus dem Boden geschossenen Internierungs- und Folterlager, zur Zwangsarbeit in die Gruben des Kladnoer Kohlenreviers oder gleich nach Sibirien in den Tod zu schicken.
Ich, Lydia Rosenkranz, 21 Jahre alt und infolge der vorausgegangenen Verfolgungen an Körper und Seele verletzt, war mit unter den unfreiwilligen Passagieren - begleitet von meiner Mutter Maria (Vater Franz hatte man bei der vorausgegangenen Selektion festgesetzt und ins berüchtigte Lager Lärchenfeld gebracht) und den 80-jährigen Großeltern väterlicherseits.
Mit dabei waren auch 85 von einst 486 Praskowitzer Dorfgenossen - alle anderen waren entweder gewaltsam zurückbehalten worden, weil man sie in irgendeiner Weise schuldig sprach oder sie ganz einfach als „Arbeitsvieh“ nutzen wollte, im Arbeits- oder Kriegsdienst irgendwo in Europa verstreut worden (das betraf auch meinen Bruder Franz - er war Ende 1944 mit 17 Jahren freiwillig zur Marine gegangen und geriet in Gefangenschaft), an der Front gefallen oder in den Schreckenswochen seit dem „Tag der Befreiung“ aus irgendeinem oder auch ganz ohne Anlass einfach ermordet worden war …

Der endlose Zug offener Kohlenwaggons setzte sich also in Richtung Dresden in Bewegung.
Wer von uns nun aber dachte, wir hätten das Schlimmste überstanden, wurde bald bitter enttäuscht: Nun begann für uns eine lange Reise nach nirgendwo, erwarteten uns neue Verfolgungen, Not und Elend, Demütigungen, Trennung der Familien, und für viele - der baldige Tod. Die Torturen waren keineswegs beendet; jetzt ging es (auf andere Weise) eigentlich erst richtig gegen uns Vertriebene los!

Es begann schon kurz nach der Abfahrt: Als wir hinter dem Nachbarort Salesel durch weitere ehemalige deutsche Dörfer kamen, wurden wir mehrfach von tschechischen Jugendlichen mit Karabinern beschossen. Es war so, als wenn sie schon auf diese Vertreibungs-Züge gewartet hätten!
Bei diesen Leuten dürfte es sich um Mitglieder der seit Juni 1945 in allen sudetendeutschen Orten tätigen Terrortruppen gehandelt haben – ausgeschickt, instruiert und befehligt von den neuen, aus England gekommenen Prager Machthabern. Diese meist völlig verrohten jungen Menschen, die sich selbst wohl als „Revolutionsgarden“ bezeichneten, hatten damals nur ein Ziel: uns Deutschen das Leben so zur Hölle zu machen, dass wir die Austreibung noch für das kleinere Übel hielten und an Widerstand nicht einmal dachten. Das ist ihnen gründlich gelungen.
Dank der 1946 diese Unmenschen großzügig amnestierenden und noch heute gültigen Benesch-Dekrete wurde meines Wissens kein einziger von ihnen je zur Rechenschaft gezogen. Alle diese Rotzbengels (ich habe sie in Praskowitz hassen gelernt!) waren 1945 um die 15 bis 20 Jahre alt und müssten demnach heute um die 80 sein. Ob sie, als „Helden der ersten Stunde“ und „Befreier“ gewiss ordensgeschmückt und in ihrer Heimat hoch geehrt, ihr Tun jemals bereut haben?
Ich weiß nicht, ob damals durch diese Schüsse jemand verletzt oder getötet wurde, saß ich doch an diesem Tage wie versteinert und völlig apathisch im Kohlendreck das Waggons.
In Dresden angekommen, roch die ganze Gegend „brenzlig“ - kein Wunder nach der großen menschengemachten Katastrophe, die sich hier vier Monate früher ereignet hatte. Wir durften den Zug nicht verlassen; für uns Sudetendeutsche hieß es an der Stadtgrenze: Sperrzone!
Das war für unsere Familie eine riesige Enttäuschung, hätten wir doch bei der uns bekannten Familie Kubach in der (unzerstörten) Reideburger Straße 23 von Dresden-Neustadt erste Aufnahme finden können. Uns wäre viel erspart worden!

So fuhren wir denn weiter nach Norden, immer wieder auf Abstellgleisen landend. Von Riesa an hockten wir dann wenigstens in geschlossenen Güterwaggons, aber die Irrfahrt führte uns Kilometer um Kilometer weg von der Heimat.
Nirgends bekamen wir Aufnahme, ganz selten Essen und Trinken durch das Rote Kreuz, war doch überall Kriegsgebiet gewesen und niemand auf so viele unverhofft ankommende Leute auch nur im Geringsten vorbereitet.
So begann denn das Sterben in dem Unglückzug: zuerst traf es die Säuglinge, Verletzten und Kranken, dann die ganz alten Leute und Hochschwangeren, dann die Kleinkinder …

Schon nach Dresden lernten wir die Zugstopps, welche man in der Hoffnung auf eine Bleibe und Nahrung zunächst herbei gesehnt hatte, zu fürchten: Marodeure lauerten uns auf – für sie waren wir leichte Beute. Hinter Meißen traf uns der erste derartige Überfall: Gruppen von Polen kamen und durchwühlten unser weniges Gepäck auf der Suche nach Brauchbarem.
Dabei wurden auch meinem Großvater die Papiere und das wenige Geld gestohlen.
Waren es entlassene Fremdarbeiter, Angehörige der neu aufgestellten polnischen Armee, über die Neiße gekommene Plünderer …?
Das war aber nur der Anfang. Bald bekamen wir auch - besonders nachts - Besuche der wahren Sieger des Jahres 1945: der Russen. Die meisten von denen konnten ihre bevorzugten Wünsche damals mit vier deutschen Worte schon recht präzise und unmissverständlich ausdrücken: „Urri, urri“ sowie „Frau, komm“.
Bis 1944 hatte ich diese Leute aus dem Osten nur aus den Erzählungen meines Vaters gekannt, der als Kriegsgefangener im 1. Weltkrieg fünf Jahre lang bei sibirischen Bauern verbracht hatte. Er schilderte sie mir als einfach, aber herzensgut und in jedem Fall liebenswert. Als ich viel später bei Dostojewski und Tolstoi nachlas und mehr über die „russische Seele“ erfuhr, dachte ich oft an seine Worte.
Durch die Bürgerkriege zwischen „Roten“ und Weißen“, die folgende Gottlosigkeit und ideologische Beeinflussung, den Stalinschen Terror und natürlich besonders die furchtbaren Ereignisse des zweiten Weltkrieges muss es bei ihnen jedoch zu einer tiefgreifenden Entwurzelung sowie Entfremdung von sich selbst gekommen sein. Seit Juni 1945 lernte ich die durch ihre Führung noch zusätzlich gegen uns Deutsche aufgehetzten Soldaten der Roten Armee jedenfalls als unberechenbar und oft auf eine unsagbar bösartig-scheußliche Art kennen. So auch bei dieser Gelegenheit: Wenn also der Zug nun hielt (oder zu diesem Zwecke aufgehalten wurde), ging es nicht nur an’s Plündern, und bei uns war ja ohnehin mit jedem Halt immer weniger zu holen. Durch die aufgerissenen Türen stürzten die meist betrunkenen, oft stechend riechenden Russensoldaten in ihren olivgrünen Uniformen und suchten stets auch nach jungen Frauen, um sie vergewaltigen zu können. Ich entkam mehrfach mit sehr viel Glück – eingewühlt in den Kohlendreck, unter den Röcken meiner Großmutter … Anderen erging es schlimm, darunter auch einer Frau, die in unserem Waggon gerade ihr Kind zur Welt gebracht hatte.
Bei Angermünde war dieser schaurige erste Teil der Reise im Vertreibungszug vorüber;
Gott weiß, wo die unglücklichen Mitfahrer alle geblieben sind und was aus ihnen wurde!
Wir vier Rosenkranzens & Schmehles steuerten nun, über Berlin kommend, in überfüllten Zügen Naumburg an, wo wir Bekannte zu treffen hofften. Mehrmals mussten wir, den gehbehinderten Großvater mühsam stützend, streckenweise laufen, da es durch zerbombte Schienen nicht weiterging.
An einer Brücke bei Muldenstein ließ man uns Flüchtlinge nur etappenweise herüber.
Dann plötzlich wurde sie von den Russen gesperrt. Keiner durfte mehr vorbei – viele Familien wurden getrennt. Auch Mutter und ich verloren auf diese Weise die Großeltern.
Wir sahen sie nie wieder.
Und es ging immer weiter: oft mussten wir unterwegs um Wasser und Brot betteln. Bei den Bauern wurden wir meistens abgewiesen, denn sie hatten ja selber kaum noch etwas, weil vielerorts gekämpft worden war.
Dann endlich, auf einem großen Gut bei Naumburg-Lachstedt, fanden wir beide - es war
inzwischen Anfang August - erste Bleibe. Doch die von uns hier erwartete schwere
Feldarbeit war Mutter und mir nach den vielen Misshandlungen und Entbehrungen kaum
möglich. Durch die menschenfreundliche Gutsfrau (sie schenkte mir auch ein Paar Schuhe!) durften wir zunächst in der Küche helfen, bis wir später in Hohnsdorf bei Halle eine Stube für uns erhielten und endlich etwas zur Ruhe kamen.
Hier wurde uns erstmals nach Kriegsende auch ärztliche Hilfe zuteil, denn wir beide waren ja vor und während der Vertreibung in unserem Heimatort schlimm verletzt worden - meine Mutter mit einem Messer im Gesicht, ich infolge eines Sturzes an Hinterkopf und Rücken. Auch gegen den damals grassierenden Typhus impfte man uns, wobei im Dorf nicht genügend Kanülen vorhanden waren.
Allerdings wurden wir bei dieser Gelegenheit, wie alle vertriebenen Frauen, auch auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Man hatte sich wenigstens auf diese Weise inzwischen auf die Eigentümlichkeiten unserer „Be-Freier“ eingestellt.

Nun, da die Höllenfahrt zu Ende war, konnten wir über das Rote Kreuz endlich auch nach meinem Bruder und Vater sowie den Großeltern suchen ...

Als ich zwischendurch irgendwann einmal dazu kam, mich in einem Spiegel anzuschauen, dachte ich zunächst, eine Fremde zu erblicken: ein verdrecktes, verlaustes, aufgequollenes Etwas blickte mich mit traurigen Augen an, eine Haarsträhne war mir weiß geworden.
Ich hatte überlebt, und war doch eine andere geworden.
21 Jahre war ich damals alt …

Übrigens:

Trotz NRW-Landtagswahl und Griechenland-Krise ließ es sich unsere Bundeskanzlerin vor einigen Tagen nicht nehmen, zum „Tag des Sieges“ nach Moskau zu eilen und dort auf der Tribüne am Roten Platz eine der größten Militärparaden der Geschichte zu erleben. Die auch eingeladenen Präsidenten Frankreichs und Italiens fuhren übrigens nicht dorthin, der polnische Staatschef gleich weiter, um in Katyn seiner durch die Rote Armee ermordeten Landleute zu gedenken.
Was für eine Geste - eine deutsche Politikerin an dem Platz, über den wie weiland im alten Rom 1945 viele tausend gefangene deutsche Soldaten im Triumphzug mitgetrieben wurden, um dann bis 10 Jahre in Zwangsarbeit zuzubringen oder gar elend zugrunde zu gehen, ehrerbietig vor der roten Fahne mit Hammer und Sichel, die für Millionen Tote und ein tyrannisches Regime steht, angesichts der stolz zur Schau gestellten Abbildungen des Massenmörders „Väterchen“ Stalin …
Haben Deutsche - bei all dem, was damals geschehen ist - einst wirklich mitgesiegt und nun Grund zum Feiern?
Ob Frau Merkel nicht weiß, auf welche Weise wir einst vor 65 Jahren (vor allem von Hab und Gut) „befreit“ wurden? Wie Millionen deutscher Frauen im Anschluss „besiegt“ worden sind und (falls sie es überlebten, und noch leben) sich dieser Tage vor allem in ihren Alpträumen erinnern?

Und wenn sie es weiß: Warum tut sie das?
Lydia Radestock, im Mai 2010

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