Kastanienzeit
Um mir eine Freude zu bereiten, kam vor einigen Tagen mein Enkel Hans zu
mir und brachte mir als Gruß von der Allee neben unserer Siedlung eine
stachelschalenumhüllte reife Kastanie.
Trotz des kühlen Wetters zur deren Blütezeit im Mai 2014 gibt es bei uns
in diesem Jahr eine reichliche Kastanien-Ernte. Nicht so übrigens im
Forsthaus bei meinem Sohn; das steht in einem vom nahen Frauensee
beherrschten „Kaltluftbecken“; dort ist - wie bei den Walnüssen - heuer
offenbar keine einzige dieser Baumfrüchte aufzufinden.
Beim Anblick der glänzend braunen, wunderbar in der Hand liegenden
Kullern mit dem hellen Augenfleck erinnerte ich mich unwillkürlich an
meine Kinderzeit.
Zwei Dinge fallen mir dazu ein:
1. Nach den spätsommerlichen Aufrufen unseres Försters sammelten wir
Praskowitzer Kinder jedes Jahr Kastanien und Eicheln für die Waldtiere -
bei der Abgabe bekamen wir jeweils einige Heller (unsere damalige
Währung in der Tschechoslowakei – sie entsprachen unseren Cents).
Heute weiß ich: Unsere mühsam gehorteten Kastanienfrüchte ließen das
Försterherz damals nicht unbedingt höher schlagen, weil: sie werden
eigentlich nur vom Damwild gefressen (das wie die Kastanien auch vom
Balkan kommt), während heimische Hirsche, Rehe oder Wildschweine bei
dieser Nahrung wegen der bitteren Gerbstoffe eher „lange Zähne“ machen.
Da gilt dann wohl: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“.
Vielleicht hat der Grünrock unsere Kastanien deshalb damals auch in der
Apotheke abgegeben; Kastanien-Inhaltsstoffe helfen ja bekanntlich gegen
Krampfadern, Hämorrhoiden, Muskelprellungen, Frostschäden, Sonnenbrand,
Durchblutungsstörungen, Rheuma und Gicht. Eine Art Allheilmittel? Ich
kenne den entsprechenden Extrakt jedenfalls schon seit den 1930-ern als
hilfreichen Badezusatz. Oder er hat sie im Gestüt gespendet: nicht von
ungefähr sind die deutsche und lateinische Bezeichnung der Kastanie aus
der Verwendung der Früchte als gesundheitsförderndes Pferdefutter
abgeleitet.
2. Wir bastelten mit diesen Früchten oft und gern – Hirsche und Rehe mit
und ohne Geweih bzw. Gehörn, Männlein und Fräulein, einmal sogar einen
Zug (eine Lok mit großen Rädern und kleineren Waggons …).
Die Kastanien, ergänzt mit Eicheln sowie deren Hütchen und anderen
Spätsommer-Früchten, wurden mit Streichhölzern und Zwirn und Pappe
zusammengefügt. Oft kam meine Nachbarin, die Pappisch-Traudel, mit zur
Bastelei hinzu. Wenn wir nicht weiterwussten, half uns meine Mutter
Marie.
Eine solche Kastaniengruppe wurde immer bis zum nächsten Jahr
aufbewahrt, sodass man bei deren Anblick immer schon in Vorfreude auf
die nächste Septemberbastelei war, der dann prompt unsere alljährliche „Wir-lassen-einen-Drachen-steigen-Zeit“
folgte.
Später, in den 1950-ern und 1960-ern, habe ich oft auch mit meinen
Kindern Klaus und Petra solche Kastanien-Figuren gebastelt. Dann, in den
1980-ern, kam meine Enkelzeit: Jörg und Hans und Hannes waren ebenfalls
begeistert –als Früche-Sammler und Bastler.
Nun gilt es, Urenkel Emil, der fast drei Jahre alt und damit „kastanien-bastelreif“
ist, dafür zu begeistern. Es wird gelingen.
Fazit: Durch solche jahreszeitlichen Höhepunkte war und wird es, auch
ohne Fernsehprogramm und bei „Mistwetter“, für unsere Familie nie
langweilig!
Lydia Radestock, im September 2014 |