Leierkastenmann

Als ich noch Kind war, erschienen bis zum Ende der dreißiger Jahre in unseren Dörfern öfter Männer mit einem Leierkasten. Manchmal spielten sie auch Geige oder Akkordeon.

Diese Leute waren sudetendeutsche Kriegsinvaliden aus dem ersten Weltkrieg, welche für Österreich in den Krieg gezogen waren. Aufgrund ihrer verschiedenen Kriegsbeschädigungen bekamen sie keine Arbeit mehr, und die kleine Rente reichte kaum zum Leben. Direkt betteln gehen wollten solche Männer aber auch nicht. So versuchten sie, wenn noch dazu in der Lage, mit dem Musikmachen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und bei den Bauern gab ja nicht nur ein paar Heller, sondern manchmal auch noch etwas zu essen.

Für uns Kinder war der Besuch eines solchen Leierkastenmannes immer ein Ereignis. Wir liefen dann von Hof zu Hof mit, sammelten ein, was die Leute gaben und überbrachten es dem kurbeldrehenden Musikanten.

Die Invaliden hatten ihre Leierkästen meist auf ein Gestell mit Rädern gesetzt. Je nach Modell waren manchmal vorn auch Nischen eingelassen, worin verschiedene Figuren tanzten oder sich bewegten. Sobald die Kurbel gedreht wurde, erklang die Musik, und alles kam in Bewegung.
Bis zu fünf, sechs Lieder konnten gespielt werden. Ich kann mich noch erinnern an „Mariechen saß weinend im Garten ..." oder „Warum weinst Du, holde Gärtnersfrau ...". Oft wurde auch etwas von Räubern gespielt, aber da habe ich den Titel vergessen.

Ein Mann hatte ein kleines Äffchen dabei - das machte uns besonders viel Spaß. Wir konnten es nicht genug bewundern. War die Musik zu Ende, hielt es den Leuten ein Körbchen hin, damit sie etwas Geld hineinlegen konnten. Das Äffchen knabberte gern Nüsse oder Kekse. Aus Mitleid gab ich einmal meine ganze Krone, welche eigentlich für die Kirmes am Sonntag bestimmt war.
Mein Mitgefühl kam daher, dass mein Vater uns Kindern von seinen Erlebnissen im ersten Weltkrieg erzählt hatte, und wie froh er war, mit heilen Gliedern in die Heimat zurück gekommen zu sein. Daran dachten wir aber fast alle, wenn solche Menschen zu uns kamen, und hatten auch immer etwas Essen für sie bereit.

Ich erinnere mich am Beispiel der Leierkastenmänner gut: Wir wurden von unseren Eltern, Großeltern und Lehrern damals auf vielerlei Art zu „Wir-Tugenden“ wie Bescheidenheit, Einfühlvermögen, Teil- und Rücksichtnahme, Opfer- und Hilfsbereitschaft erzogen.
Wenn das nur heute auch noch so wäre!


Lydia Radestock, im Februar 1998

zurück