„Lieschen“, unsere zahme Henne

Um diese Geschichte zu erzählen, muss ich mit Nachbars schwarzem Hahn beginnen.
Der sah prächtig aus - mit seinen grünlich schwarzen schillernden Federn, der goldschimmernden Halskrause, den schwellendem rotem Kamm auf dem Kopf und seinen bunten, herrlich wirkenden Schwanzfedern. Die Stimme dieses Tieres hörte man weit und breit im Dorf. Schon früh um viere begann er zu krähen. Die anderen Hähne im Dorf antworteten dann. Es war ein gar stolzer Hahn, der sein Volk (ss waren dies alles unscheinbare, behäbig braune Rodeländer Hühnerdamen) gut zusammenhielt.



Bei uns auf dem Hof strich seit einiger Zeit eine unserer schlanken schneeweißen Junghennen immer wieder am Nachbarzaun entlang. Der prächtige schwarze Hahn hatte sie offenbar schwer beeindruckt und bezirzt, ihr vielleicht öfters ein Würmchen heran geschmuggelt …, denn er wollte sie wohl gar zu gern mal beglücken (heute sagt man wohl: er war scharf auf sie, weil er mal Abwechslung brauchte).
Ganz schlau stellte er es dann bei seinem Liebeswerben an; das schwarze Federtier scharte eine Kuhle aus, dass sie unterm Zaun zu ihm herüber kommen konnte. Immer wieder lockte er unsere Henne in der Folge mit ganz besonderen Leckerli.

Und dann war es geschehen: die Junghenne ließ sich bei uns nicht mehr sehen.
Wir dachten erst, der Marder hätte sie mitgenommen. Doch in Nachbarsscheune, ganz hinten auf der Tenne in eine Ecke unterm Stroh versteckt, hatte sie sich heimlich ein Nest gebaut und unbemerkt Eier hineingelegt. Dort hatte sie keiner gestört, wenn sie drauf saß.

Doch dann ist ihr Seitensprung ans Licht kommen. Denn eines Tages war sie (unter den Augen der erstaunten Nachbarin) mit neun rabenschwarzen Küken zunächst über den Nachbarhof marschiert, und unter der Lücke am Zaun kam sie bald auch wieder zu uns.
Unser weißer Hahn nahm sich zum Glück der schwarzen Stiefkinder an, ohne zu protestieren, und man zog sie alle miteinander auf.



Besonders wir Kinder, mein Bruder Franz und ich, freuten uns über die ewig hungrigen, piepsenden, rabenschwarzen Federbälle.
Eines war darunter mit einem kleinen weißen Federbrustlätzchen – das wurde unser besonderer Liebling. Es bekam extra Leckerbissen, wurde auf den Arm genommen und gestreichelt, ward dann schnell ganz zahm und lief uns gleich hingegen, wenn wir „Lieschen“ riefen. Noch als Henne gab sie abends Antwort, wenn sie mit den anderen Hühnern auf der Stange im Hühnerstall saß, und wir sie riefen. „Kr, kr, kr“ machte sie dann.

Wir hatten das Tier viele Jahre, und sie blieb die ganze Zeit unser „Lieschen“.
Ich werde sie nie vergessen!

Lydia Radestock, im August 1995

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