Mein 90-ster: Geburtstagsfahrt
ins Elbetal
Anlässlich meines 90. Geburtstages wurde ich am 2. Juni 2014 um 8.00 Uhr
von meinem Sohn Klaus bei strahlendem Sonnenschein mit seinem Auto zu
einer Fahrt in meine alte Heimat abgeholt.
An diesem Montagmorgen war nicht viel Autoverkehr, und es wurde eine
angenehme Fahrt. Bis zur Grenze nach Tschechien fuhren wir auf der
Autobahn. Um die mir vertraute Umgebung des Sudetenlandes besser wieder
zu erkennen (und die Mautgebühr zu sparen), bogen wir dann ab und fuhren
durch das Bahratal in Richtung Aussig weiter. Das war kein Problem: über
sein Navigationsgerät bekam Klaus im Auto immer die richtige Straße
angesagt.
Als wir Ausgangs des Erzgebirges an dem Denkmal zur Erinnerung an die
Schlacht bei Kulm anlangten, erzählte mir Klaus bissel was zu diesem
Ereignis: am strategisch wichtigen Nollendorfer Pass versuchte am 29.
und 30. August 1813 bei den Dörfern Kulm (heute Chlumec) und Nollendorf
(heute Naklérov)
das französische Heer unter General Dominique Vandamme mit einer
Truppenstärke von 30.000 Mann, aus Pirna kommend, einen Durchbruch in
Richtung Böhmen mit dem Ziel Wien. Dieser Vorstoß wurde von russischen,
österreichischen und preußischen Truppen durch die Schlacht verhindert,
wobei die Franzosen Verluste von über 10.000 Mann erlitten.
Als wir dann in Aussig am Güterbahnhof vorbei kamen, dachte ich an
meinen Vater, der von 100 Jahren hier Lehrling war. Er durfte nach 1918
unter den Tschechen seine Lehre nicht beenden, weil er im ersten
Weltkrieg als Soldat bei den Österreichern gedient hatte.
An der Aussiger Benesch-Brücke gedachte ich etwas später der Greueltaten,
die meine Landsleute im Juli 1945 an dieser Stelle erdulden mussten.
Als wir in der Folge am Westufer der Elbe nach Süden und durch die mir
vertrauten Dörfer kamen, kamen alte Erinnerungen wieder hoch, denn in
jedem Ort wohnten einst Verwandte, und ich zeigte meinem Sohn die
entsprechenden Bauernhäuser.
Dann endlich Praskowitz: wir verließen die Fernstraße, fuhren über die
Bahnschranke und in den Ort.
Die von uns zunächst angesteuerte Zufahrt zu unserem ehemaligen
Kirschenhain war verwildert und nicht mehr PKW-befahrbar. Laufen konnte
ich leider nicht, und auch mit dem Rollstuhl ging es dort nicht weiter –
das eigentlich geplante (und zu meinem 80. noch mögliche)
Kirschenpflücken fiel also diesmal aus.
Nun ging es die ehemalige Bezirksstraße hoch; das Kreuz am Dorfeingang
ist noch immer vorhanden und die Umgebung sieht gepflegter aus als in
den Vorjahren.
Auch der Dorfplatz machte einen recht guten Eindruck. In seinem oberen
Bereich ist neu ein eingezäunter Kinderspielplatz vorhanden.
Die Dorflinden, unter denen wir Praskowitzer Mädchen und Jungen des
Abends unsere Lieder gesungen haben, stehen noch. Ich erinnerte mich
auch: in der Nähe der (immer noch vorhandenen) Wasserpumpe gab es bei
uns den Maibaum, um den wir beim Maibaumbaumfest (die Mädchen in
Dirndlkleidern, die Jungen in Lederhosen und weißen Hemden) immer den
Reigen tanzten.
Kaus schob mich dann im Rollstuhl die abschüssige Dorfstraße hinab zu
„meiner“ Linde, (der ich in einer meiner ersten Heimat-Geschichten mein
Schicksal erzählte). Ich pflückte mir eines ihrer Blätter zur Erinnerung
- habe es inzwischen getrocknet und gestern an das in meinem Wohnzimmer
hängende Bild meines Vaterhauses geklebt.
Dann kamen wir hinter der nunmehr äußerlich
renovierten Praskowitzer Kirche (die verschlossen war – wir haben sie
bei unseren vielen Besuchen leider nie geöffnet vorgefunden) in den
benachbarten Friedhof zur Mauer, von der aus man einen guten Blick auf
das Elbetal hat: mit Böhmischer Pforte, Kameiker Burg, Eisberg(so
genannt, weil hier auch im Sommer immer etwas Eis vorhanden ist),
Winterberg (er wurde mit Mischwald bepflanzt, nach dem er viele Jahre
kahl war), Deblick (durch Abraumhalden des ehemaligem Steinbruchs
verunziert) ...
Das Dubitzer Kirchlein ist von dieser Stelle aus leider durch Gestrüpp
verdeckt. Bedauerlicherweise gibt es infolge der Hochstraße keine
Überfähranlage mehr nach Libochowan – das war früher immer ein schöner
Anblick.
Auf der Anhöhe in Richtung Salesel war das kleine Dorf Qualen zu sehen.
Klaus fuhr mich dann mich dann (es war angesichts defektem Asphalts
mühsam) wieder zum Dorfplatz hoch. Ich stellte fest: die ehemalige
Schule dort ist jetzt als Wohnhaus eingerichtet. Nebenan war unser
Turnplatz, daneben das Kriegerdenkmal als Andenken für die im ersten
Weltkrieg 1914 – 1918 gefallenen Männer der Dörfer Praskowitz und
Lichtowitz. Die Tafeln mit den Namen der Dorfbewohner sind natürlich
abgerissen worden.
Aber: Gemeindehaus, Post … - alles neuerdings sauber und in Ordnung.
Dann ging es zu unserem Grundstück, dass wir für immer verloren haben.
An der Stelle meines (schon in den späten 1940-ern wohl durch damalige
„Schatzsucher“ abgerissenen) altehrwürdigen Vaterhauses liegt
Baumaterial
– entsteht hier etwa ein neues Wohnhaus? Es würde mich freuen.
Nun ging es weiter ins benachbarte Lichtowitz. Ich weiß: in einer
ehemaligen Villa wohnt hier die neue Praskowitz-Lichtowitzer
Bürgermeisterin, mit der ich kürzlich telefonischen Kontakt hatte.
Wir klingelten, aber sie war natürlich (es war gegen Mittag) nicht da,
und wir nicht angemeldet. Die Frau interessiert sich für meine
ortsgeschichtlichen Darlegungen in www.oma-im-netz.de.
Und so haben wir nun per Google begonnen, meine in „Alte Heimat“
eingestellten Beiträge ins Tschechische übersetzen kann.
Ob es auch aus anderen sudetendeutschen Orten solche Impulse gibt?
Doch weiter mit unserer Fahrt:
durch einen Eisenbahntunnel kamen wir in der Folge wieder zur neuen
Hochstraße und fuhren durch die Böhmische Pforte nach Lobositz.
Vor Klein-Tschernosek sahen wir oben am Felsen, auf der anderen
Elbseite, die drei Kreuze - als Erinnerung an drei Schwestern, welche
sich vor Jahrhunderten von dort oben herunter gestürzt hatten, um sie
verfolgenden Rittern zu entkommen.
In Lobositz fanden wir die Straße, in der meine heute in Amerika
wohnende Freundin Christel gewohnt hatte, nicht mehr – überall
Neubauten.
Dann ging es an der chemischen Fabrik entlang, aus der jahrzehntelang
alle Abwässer einfach in die Elbe geleitet wurden. Mit diesem Frevel ist
es jetzt wohl vorbei.
Über die Elbebrücke kamen wir dann zur Bezirksstadt Leitmeritz, die wir
aber nur streifen. Von da aus geht es über Groß-Tschernosek nach
Libochowan.
Hier, gegenüber Praskowitz, macht mein Sohn Klaus direkt an der Elbe
Fotos von mir und meinem Heimatort.
Dann ging es weiter - wir grüßen zum Dubitzer Kirchlein hoch.
In Birnai, wo vor über 100 Jahren meine Mutter geboren wurde, gedachte
ich meiner Schimken-Verwandtschaft, besonders an Großmutter und
Großvater.
Nun passierten wir schon die Schreckensteiner Burg. Die Gegend ist
freilich nicht mehr so lauschig wie zu der Zeit, als Ludwig Richter sein
berühmtes Gemälde „Überfahrt am Schreckenstein“ malte: auf der Elbe ja
ist in Höhe des uralten Gemäuers schon in den 1920-ern ein riesiges
Stauwerk zur Verbesserung der Elbeschifffahrt entstanden.
Erneut in Aussig angekommen fuhren wir an den Schichtwerken vorbei über
die neue Elbebrücke, und unter dem Martinsberg ging es hinter dem Lumpe
Park in Richtung Tetschen-Bodenbach an die Grenze.
In Herrnskretschen wollten wir etwas zu uns nehmen. Klaus hatte Knödel
mit Sauerbraten und war ganz zufrieden, aber ich (die ich wusste, dass
meine Tochter Petra uns mit dem Essen erwartete), begnügte mich mit
einer Knoblauchsuppe. Das war ein Fehler, denn das Gericht glich eher
einer Wassersuppe mit ein paar Brotstückchen. Also teilten wir uns
schließlich den Sauerbraten.
Weiter ging es über die Grenze nach Langebrück, wo wir gegen 17.00 Uhr
eintrafen - an der Haustür begrüßte uns Lothar, der Lebensgefährte
meiner Tochter.
Petra hat uns im Garten auf der Terrasse bei einer netten, mit der Zahl
90 geschmückten Geburtstagstafel, einem ebenfalls mit einer 90
verzierten Rhabarberkuchen (von Lothar) und einer herrlichen rosaroten
Rose erwartet, worüber ich mich sehr gefreut und herzlich bedankt habe.
Anschließend wurde mit Sekt auf den 90. angestoßen.
Als es draußen kühler ward, wurden wir in der Wohnstube von Klaus mit
einem Fotobericht über mein Leben - von 1924 bis 2014 - überrascht;
danke auch Dir, mein Sohn!
Trotz meiner Müdigkeit habe ich durchgehalten.
Es war für mich ein anstrengender, ereignisreicher Tag - nun der
inzwischen vielleicht schon 15. Besuch der alten Heimat nach der
fürchterlichen 1945-er Vertreibung.
Eines ist mir noch klar geworden: zwar verblassen nicht die
Erinnerungen, aber die Bindung an die Orte meine Kindheit und Jugend
wird immer schwächer. Denn was ist Heimat? Offenbar eben nicht nur ein
unverwechselbarer liebenswerter Ort mit seinen Bergen, Tälern und
Gewässern, Feldern, Wiesen, Wäldern, Pflanzen und Tieren, Häusern und
Wegen. Es ist dies vielmehr immer auch die Gemeinschaft vertrauter
Menschen mit ihrer unverwechselbaren Sprache, ihren Sitten und Bräuchen,
Erzählungen, Mythen und Riten.
Und genau diese meine Mitmenschen der alten Heimat habe ich, da
inzwischen nur ein einziger unserer einstigen Dorfbewohner (1945 ein
Säugling) noch lebt, nun für immer verloren.
Die heutigen (zugezogenen) Praskowitzer sind mir leider Fremde geblieben
– ein Brückenschlag hinweg über das Böse der Vergangenheit war über fast
70 Jahre nicht möglich.
Es bedrückt mich sehr, zu erkennen, wie erfolgreich sich Menschen aller
Nationen durch die Mächtigen der Welt immer wieder gegeneinander
aufhetzen lassen. Denn nicht nur die Sprachbarriere trennt uns Deutsche
und Tschechen heute - offenbar ist das (immer wieder geschürte)
Misstrauen nach soviel altem Hass, unfassbaren Ungerechtigkeiten,
Verbrechen und Scheußlichkeiten noch zu tief, um normal miteinander
umgehen zu können. Vielleicht muss ja wirklich erst die
Erlebnisgeneration wegsterben, damit vergeben werden kann.
Oder hat das kritische Nachdenken über das Gewesene (und Erkennen
eigener Schuld) vielleicht inzwischen doch auch auf tschechischer Seite
begonnen?
Noch bis vor 10 Jahren war das leider nicht der Fall: am 25. Februar
2004 ehrte das tschechische Parlament mit großer Mehrheit den
Meister-Vertreiber Benesch mit einem eigenen Gesetz, das nur aus einem
einzigen Satz bestand: „Edvard Beneš hat sich um den Staat verdient
gemacht". Ich dachte damals: willkommen in der Europäischen Union!
Ist vielleicht mein derzeitiger Kontakt zu der neuen
Praskowitz-Lichtowitzer Bürgermeisterin endlich eine Art
Hoffnungsschimmer?
Lydia Radestock, im Juni 2014 |