Meine abgebrochene Lehre als Verkäuferin
Als ich im Jahre 1938 im Juni mit 14 Jahren aus der Schule kam, waren
bei uns im Elbetal unruhige Zeiten. Es gab oftmals Reibereien zwischen
der tschechischen und der deutschen Bevölkerung – die Stimmung war
gereizt.
Dann kam das Münchener Abkommen und die deutsche Besetzung …
Deshalb habe ich auch erst im Januar 1939 eine Lehre im benachbarten
Industrieort Lobositz aufgenommen. Ich wollte Verkäuferin werden und
lernte im dortigen Kleidergeschäft von Wilhelm Schmehle.
Das Geschäft hatte ursprünglich einem Mann jüdischen Glaubens gehört,
von dem es Herr Schmehle preisgünstig abgekauft hatte, bevor er
emigrierte.
Denn: zu dieser Zeit waren ja die Juden schon „unerwünscht“ geworden.
Weil mein Vater bei der Bahn arbeitete, bekam ich als Lehrling eine
Freikarte für die tägliche Zugfahrt nach Lobositz.
Leider konnte ich meine Lehre nicht ganz beenden, weil Herr Schmehle zur
Armee einberufen wurde und den Laden schließen musste.
Ich arbeitete dann im Sommer in der elterlichen Landwirtschaft und ging
im
Winter als Nähgehilfin zu einem Schneider nach Aussig, bis auch dort
kriegshalber geschlossen wurde.
Nach der Vertreibung aus der Heimat fand ich zunächst keine Anknüpfung
mehr an meinen Lehrberuf: ich war dann zuerst bei Bauern als Magd,
später in einem Arzthaushalt als Hausgehilfin, dann in einem
Kunstgewerbe-Geschäft tätig.
Es folgte eine Anstellung als Laborhelferin, danach war ich an der
Hygieneinspektion in Halle (S) beschäftigt.
Erst in den 1960ern habe ich wieder „verkäufern“ können:
Der Hutladen in der Eisenhüttenstädter Leninallee stellte mich ein – es
hat mir viel Freude gemacht!
Wenn damals nur mein Gesundheitszustand stabil geblieben wäre, und ich
hätte bleiben können!
Heute allerdings verkauft dort schon längst niemand mehr Hüte; man kann
sie ja eh’ im Internet reibungslos über Ebay, Otto, Amazon … beziehen.
Ich habe mir fest vorgenommen, demnächst mit meinem Enkel Hans mal
wieder in die Oderstadt fahren – und sei es nur, um zu schauen, was aus
„meinem“ Hutgeschäft geworden ist …
Lydia Radestock, im September 2009 |