Post aus der alten Heimat

Vor geraumer Zeit erhielt ich Mailpost aus Tschechien, die mir viel Freude bereitete. Der junge Mann hat mir dann auch noch eine Nachricht in mein Gästebuch geschrieben. Er ist Ende Zwanzig und wohnt in Leitmeritz. Seine Mutter war bis 1945 mit einer Deutschen eng befreundet und ist mit ihr in Lobositz zur Schule gegangen.

Er spricht gut deutsch, ist Naturfreund und offensichtlich durch sein Interesse am Umweltschutz auf meine Internetseite geraten, in der ich ja auch den anhaltenden landschaftsverwüstenden Steinbruch in der Gegend der Böhmischen Pforte beklage. Er stellte mir einige Fragen zum Mensch-Natur-Verhältnis, aber auch zur Verständigung von Tschechen und Deutschen. Hier meine Antwort:


„Lieber junger Freund,

bitte entschuldigen Sie die späte Antwort. Ich habe mich sehr über ihren Brief sehr gefreut – und das gleich aus drei Gründen:

Zum Ersten ist es ein schöner Gruß aus meiner alten und nun leider verlorenen Heimat. Ich war schon bei der Nennung der Orte und Berge gerührt und bin Ihnen auch dankbar, dass Sie die mir vertrauten Namen verwendet haben.

Zum Anderen lese ich aus Ihren Zeilen, dass Ihre Generation ernsthaft bemüht ist, den Hass zwischen unseren Völkern zu überwinden. Vielleicht bedurfte es wirklich dieses zeitlichen Abstands, um nach all dem Entsetzlichen langsam wieder zueinander zu finden. Die Alten werden es nicht mehr schaffen, haben einander damals wohl zu viel Böses zugefügt.
Wie ich über diese Dinge denke, habe ich in meinen Geschichten geschrieben, und möchte an dieser Stelle nichts hinzufügen.
Nur eines noch: Lassen wir gemeinsam nicht zu, dass die Mächtigen unsere Völker irgendwann erneut gegeneinander hetzen. Ihnen bleibt, das zu verhindern, noch viel mehr Zeit als mir.
Mein Rat: Misstrauen Sie denen, welche die alte Zwietracht aus eigensüchtigen Zwecken kultivieren und schüren, das alte Leid instrumentalisieren wollen – es gibt sie auch in Ihrem Land. Prüfen Sie, was man Ihnen (zum Beispiel über „die Deutschen“) erzählt, am Maßstab Ihrer eigenen Lebenserfahrung. Und leben Sie immer nach dem Grundsatz, den mir schon meine Großmutter vermittelte: "Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu!" Das ist ein Satz (in der Bibel heißt es dafür zugespitzt "Nächstenliebe"), nach dem man sein ganzes Leben einrichten kann, wenn man ein anständiger Mensch bleiben will.

Zum Dritten freut mich, Post von einem engagierten Naturfreund zu erhalten. Die Erfurcht vor der Schöpfung, deren Teil wir sind, muss uns erhalten bleiben, wenn wir überleben wollen. Als ich noch in meiner alten Heimat lebte, kannten wir das Wort „Ökologie“ (die Lehre vom Haushalt der Natur) noch nicht. Aber unser ganzes bäuerliches Leben, Handeln, Wirtschaften ... war recht naturverbunden, gewissermaßen bodenständig angelegt. Nutzung und Schutz der Natur waren bei uns noch keine Gegenpole. Das prägte auch unsere Liebe zur Heimat. Das Elbetal an der Böhmischen Pforte war uns wohl vor allem deshalb etwas einzigartig Liebenswertes & unwiederbringlich Schönes, weil es sowohl Gottes als auch unsere Schöpfung war. Unsere Vorfahren hatten eine Landschaft geschaffen, in der Natur und Kultur eine Einheit bildeten, und jeder Einzelne von uns hatte durch sein Wirken einen Anteil daran.
Allerdings: Die Zeit der landschaftsfressenden Steinbrüche und der stinkenden Elbe ist damals schon angebrochen.

Leider ist derzeit ein erstaunlicher Mangel an Demut vor der Natur „Trend“, werden kurzfristigen Gewinns wegen die Chancen der nach uns Kommenden vermindert. Ich erlebe derzeit viele Zeitgenossen als wurzellos, gehetzt, hastend nach dem nächsten „Kick“ – richtiges Glück, anhaltende Freude und innere Ruhe oder „Seelenfrieden“ werden sie dadurch nicht finden können. Sie nennen es Fortschritt, aber schreiten doch nur immer weiter weg – fort von sich selber, vom Mitmenschen und von der Natur. „Der dreifach entfremdete Mensch“ – so nennt man es wohl.
Ich bin im Zwiespalt, ob sich diese Entwicklung noch aufhalten lässt oder zum Verschwinden unserer Gattung von diesem Planeten führen wird. Das ist dann keineswegs der „Weltuntergang“ - es wird sich dann nur etwas Anderes, vielleicht sogar Besseres zur „Krone der Schöpfung“ entwickeln. Unsere Eitelkeit und - neuerdings - auch die Pflicht zur politischen Korrektheit (= Verlogenheit) dürfte uns allerdings hindern, uns einzugestehen, dass ein solches Ende möglich ist. Den Hauptgrund für solchen Pessimismus drückte Albert Einstein treffender aus, als ich es kann, als er einmal schrieb: "Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher."
Aber vielleicht kommt es ganz anders, denn Not (und leider offenbar nur die!) hat Menschen schon immer erfinderisch gemacht und zum Nachdenken gebracht. Und außerdem: Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

In den Schoß fallen wird uns eine menschenwerte Zukunft jedoch nicht – dafür muss man sich einsetzen. Wenn wir uns in unserer letzten Stunde (alle zusammen und jeder einzeln) nicht vor uns selber schämen wollen, sollten wir uns also mit den Mitteln, die uns gegeben sind, gegen Trägheit und Dummheit und Machtmissbrauch ... antreten.
Der Dichter Kurt Tucholsky hat diese Verpflichtung zur Selbstachtung einmal in folgenden schönen Vers gefasst: „Was auch geschieht, nie dürft ihr so tief sinken, den Kakao, durch den man Euch zieht, auch noch zu trinken.“

Haben Sie etwas dagegen, wenn ich meinen Antwortbrief (ohne Ihren Namen zu nennen) in meine Internetseite stelle?

Ich freue mich auf unseren weiteren Gedankenaustausch.


Freundliche Grüße

Ihre

Lydia Radestock, im August 2005

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