Tödliche Bahn

Die Eisenbahnstrecke Dresden-Prag hatte für unser Dorf Praskowitz große Bedeutung. Sie verband uns mit der weiten Welt, brachte die Sommerfrischler in unseren Ort, gab den Einwohnern Arbeit ...
Sie war aber auch Ursache oder Ort einiger schrecklicher Vorfälle, an die ich mich noch heute erinnere:

Der einzige Sohn vom Bauer Fritsch verunglückte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Gegend des Lettenkanals nach einer Lichtowitzer Tanzveranstaltung tödlich auf dem Bahngleis zwischen Praskowitz und Lichtowitz. Es konnte damals nicht ermittelt werden, was wirklich geschah. Wie war der Junge dorthin gelangt? War es ein Unfall, Mord, Selbstmord? Denn auf der Straße hatte er es doch viel näher nach Praskowitz, und betrunken war er auch nicht gewesen.

In den 30ern wurde die Frau des Weichenstellers von Praskowitz mit ihrem kleinen Sohn vom Schnellzug überfahren.
Das geschah so: Als der große Sohn der Familie aus der Schule kam, stand er wartend vor der geschlossenen Bahnschranke. Sein dreijähriger Bruder wollte ihm von der anderen Seite entgegen laufen. Als das die Mutter bemerkte (zwei Schnellzüge sollten sich hier begegnen) versuchte sie den Jungen zurück zu reißen, schaffte es aber nicht mehr - vermutlich war sie mit einem Schuh auf dem Gleis ausgerutscht.
Beide kamen zwischen die Züge und wurden zerschmettert. Die Bevölkerung des ganzen Dorfes trauerte nach diesem Vorfall viele Tage lang.

Der Pappisch Emil wurde, auch in den 30ern, von einem Güterzug überrollt, weil während laufender Gleisbauarbeiten vom Aufseher zu spät „Achtung - Zug kommt“ gerufen worden war.
Er konnte sich jedoch noch rechtzeitig auf das Gleisbett werfen und hat sich dabei ganz dicht an die Schwellen gepresst. Nach diesem Schock hat er nie wieder lachen und kaum mehr richtig sprechen können.

Es war eine grobe Unsitte in Praskowitz, mit dem Schlitten im Winter einfach über die Bahngleise bis zu Elbe zu rodeln.
Auf diese Weise ist der Hieken Fritz, der hinter dem Klausnizer Hubert auf einem Rodelschlitten fuhr, ebenfalls in den 30ern unter einen langsam fahrenden Güterzug geraten. Ihm musste in der Folge ein Bein amputiert werden - dem Hubert ist außer einem Schock nichts weiter passiert.

1944 wurde von Engländern auf dieser Bahnstrecke in der Nähe des Dorfes ein abgestellter Militärzug bombardiert und von einem die Bomber begleitenden Tiefflieger anschließend der in den Praskowitzer Bahnhof einfahrende Personenzug beschossen. Meine Cousine war im Zug; sie wollte gerade an dem Tag unsere Großmutter besuchen. Das Mädchen war noch ganz aufgeregt, als es uns ihr Erlebnis erzählte.
Wie mag sich der Pilot bei dem Beschuss der Zivilbevölkerung wohl gefühlt haben?

Alle diese Bahntragödien verblassen jedoch gegen unsere Vertreibung am 17.07.1945 – die gesamte noch verbliebene Dorfbevölkerung wurde an diesem Tag zum Bahnhof geschafft. Vorher, um die Mittagsstunde, mussten wir uns - vom Hass der Bewacher und ihren Schlägen verfolgt - innerhalb kürzester Zeit auf dem Dorfplatz sammeln, uns entkleiden und durchsuchen lassen. Man nahm uns Geld, Sparbücher, Papiere und Wertsachen, selbst Fotos und andere Erinnerungsstücke ab; nur das Nötigste konnten wir behalten. Weil ich nach den Verletzungen der vorangegangenen Tage noch nicht schnell genug war, wurde ich von den Vertreibern zusammengeschlagen. An den Folgen dieser Tage leide ich bis heute.
Von da an trieb man die Bewohner auch der umliegenden Dörfer des Elbtals an der Böhmischen Pforte zum Güterbahnhof in Praskowitz – gleich uns wurden dann tagtäglich 90 bis 100 Menschen in offene Viehwagons gesperrt und über die neue Grenze nach Deutschland gefahren. Für sie begann eine lange Fahrt ins Nichts. Es war für viele, auch für meine Großeltern, eine Fahrt in den Tod. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte.

Lydia Radestock, im April 1997

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