Unser Fibich-Bergl
Als Kinder gingen wir oft zum oberhalb von Praskowitz gelegenen
Fibich-Bergl. Von dort oben hatte man eine schöne Aussicht über den ganzen
Elbtalkessel der Böhmischen Pforte.
Man konnte hier alles gut überblicken: Die Ortschaften Praskowitz,
Libochowan, Srebnitz, Kamaik mit der Burgruine ... Rechts, in der Ferne
oberhalb des Hradek, guckte etwas von der Bergkuppe des Radobil hervor.
Dann kam der Laubwald des Hradek mit der Teufelstatze darunter, links
davon der Eisberg, (wo in einer tiefen Schlucht fast das ganze Jahr Eis
vorhanden war), Winterberg, Deblick, Zirkowitzer Berg, darunter die ersten
Häuser von Zirkowitz ...
Auf unserer Elbeseite, hoch oben auf dem Qualener Berg, lag das Dörfchen
Qualen und im Tal darunter der schöne Elb-Ort Salesel.
Das berühmte Dubitzer Kirchl war allerdings vom Fibich aus nicht zu sehen
- es befand sich hinter der Dorrellaussicht auf dem Dubitzer Berg, dessen
Bergrücken man jedoch erkennen konnte. Dann kamen der untere und obere
Jesarken, der Scheinberg und der Debus mit der Türkenwiese; hinter dem
Debus schließlich der kleine Kletschen-Berg.
Langgestreckt grüßte links die Kubatschke, von einer einzelnen
Fichtengruppe gekrönt. Darunter kam ab und an von Kottomirsch und
Dubkowitz her pustend und qualmend die Kleinbahn der Verbindung Leitmeritz
- Lobositz - Teplitz heran, die dann immer zischend und pfeifend zwischen
dem Kletschen und dem Debus nach Radzein hin verschwand.
Links war auch noch das Klampen-Bergl zu erkennen, und im Tal der Ort
Lichtowitz mit der oberhalb gelegenen Dobrai. Dahinter erblickte man den
Lobosch mit seinem keilförmigem Gipfel, daneben, etwas kleiner, den
Gibitschken.
Zwischen dem Skaln, der Böhmischen Pforte, sah man links die drei Kreuze
des Kreuzberges und darunter die Elbe majestätisch heranfließen und sich
durch das Tal winden.
Weiß leuchteten hier im Sommer die schönen Fahrgastschiffe. Dampfer, die
Kähne und Zillen hinter sich herzogen, konnte man von hier oben oft
erblicken. Auch die Überfähre war zu erkennen, wenn die Prahme von einem
Elbeufer zum anderen glitt.
An der Elbe verliefen schon damals auf beiden Seiten Bahngleise. Ab und zu
sah man die Züge entlang fahren. Sogar der Expresszug, welcher von Berlin
über Leipzig, Dresden, Bodenbach, Aussig, Prag, Brünn, Pressburg, Wien,
Budapest, Bukarest, Sofia bis nach Konstantinopel (heute Istanbul) zum
Sirkeci-Bahnhof fuhr, rauschte auf unserer Elbeseite durch Praskowitz. Man
konnte ihn im Skaln verschwinden oder ankommen sehen.
Wir Kinder streiften oft am Fibich-Bergl herum - meistens Samstag- oder
Sonntagnachmittag, denn wir in der Woche mussten wir ja auf den Feldern
oder zu Hause helfen.
Im Winter fuhren wir mit unseren Schlitten den Hügel herunter. Wenn wir
aus Gaudi einige Schlitten aneinander gebunden hatten, bekamen wir
manchmal die Kurve nicht, und lagen alle im Schnee.
Im
Sommer ließen wir uns gern im Gras von oben herab rollen. Das machte viel
Spaß, besonders, wenn wir dabei an einem Heuhaufen unten auf Ritschels
Feld landeten.
Mädchen und Jungen tanzten Reigen auf der am Hang gelegenen Wiese. Auch
Räuber und Gendarm und andere Spiele veranstalteten wir gemeinsam in der
Umgebung. Das kupierte, von Stützmauern durchzogenen Gelände bot dazu
viele geeignete Verstecke. Besonders in Lampels-Büschel, einem kleinen
Laubwäldchen, konnte man sich gut verbergen. Dabei war jedoch Vorsicht
geboten: Am Fibich-Bergl (und nicht nur dort) gab es Kreuzottern – wir
sind immer angehalten worden, sorgfältig darauf zu achten, wo wir uns
hinsetzten.
Einmal wollten wir Mädchen unser Versteck hinter dem Bergl, in einer der
Kuhlen, vertiefen und begannen dabei größere Steine zu bewegen. Dabei
brach sich die Mildner Gretel einen Finger, als ihr ein Stein auf die Hand
fiel. An dem Tag hatte sie auch noch ihren neuen Puppenwagen mit der
großen Puppe mit.
Es war nicht leicht gewesen, mit dem Wagen durch das Gras die Anhöhe
hinauf bis nach oben zu kommen. Dazu noch das Pech mit der Hand. So
mussten wir dann die Gretel samt ihrem Puppenwagen mühsam heim bringen.
Die Mutter fuhr mit ihr in die Stadt zum Doktor, weil das Mädchen die
verletzte Hand kaum noch bewegen konnte.
Gegenüber vom Fibich-Bergl, zu den Pfaffenkiefern hin, gegen die
Kubatschke, waren von unseren Vorfahren mit Feldsteinen Terrassen angelegt
worden, um in der bergigen Umgebung zusätzliche Felder für Obstanbau zu
gewinnen. In einer dieser Mauern befand sich Jentschens Schutzhütte mit
einigen Brettern darüber als Dach.
Dort hatten wir Kinder uns eine Zeitlang eine Stube eingerichtet. Zwischen
alten Gardinen, einer Tischdecke sowie Blumenvase auf einer Kiste fühlten
wir uns sauwohl.
Waren wir im Sommer durstig, liefen wir einfach hinunter zur kleinen
Quelle am Paterborn und erfrischten uns. Die Eltern hatten uns aber
gewarnt: Wenn man erhitzt war, durfte man das eiskalte Wasser nicht
trinken.
Um das Bergl herum gab es viele kleine, sehr menschliche Geheimnisse. Ich
dachte manchmal: Wenn der Hügel erzählen könnte! Denn man muss wissen,
dass dort oben auch der Treffpunkt der Verliebten unseres Ortes war -
manch heimliches Pärchen wurde hier überrascht.
In unserer Elbetalgegend standen früher an und auf den Feldern fast
überall Obstbäume - es gab außer Apfel-, Birnen-, Pflaumen-, Nuss- und
Aprikosengehölzen besonders viele Kirschbäume. Zur Baumblüte im April -
Mai war es herrliches Erlebnis, die blühenden Bäume in der Umgebung vom
Fibich-Bergl aus zu bewundern. Dieses Ereignis zog auch dann auch immer
die ersten Sommerfrischler (heute würde man sie als Touristen bezeichnen)
des Jahres aus den Städten in unsere Gegend.
Außer dem Duft der Blüten war da noch ein gewaltiges Summen und Brummen in
der Luft von den vielen Bienen und anderen Insekten, die um die Bäume
schwärmten. In manchem Jahr gab es zu dieser Jahreszeit viele Maikäfer,
welche von uns Kindern aufgesammelt und oft daheim an die Hühner
verfüttert wurden. Die Jungs haben damit aber auch gerne uns Mädchen
geärgert: Maikäfer in den Kragen oder die Schürzentasche gesteckt ...
Lustig
war es rund ums Fibich-Bergl, wenn wir im Juni die Stare mit Klappern oder
Geschrei von den Kirschen vertreiben sollten. Manchmal waren wir davon
abends ganz heiser. Hatten wir sie bei uns verjagt, mussten die Kinder auf
den Nachbarfeldern wieder zu klappern anfangen, weil die Stare dann bei
ihnen einfielen. Die Sache verlief also etwas nach dem „Sankt-Florians-Prinzip“
- den dazugehörenden Spruch habe ich aber erst später gehört: „Heiliger
Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd andre an!“
Die Vögel haben sich jedenfalls immer schnell an die klappernden
Windmühlen und weißen wehenden Fahnen gewöhnt. Gewiss war aber: Eine Schar
Stare konnte viel Schaden anrichten. Und es waren oft viele Tausende
dieser Vögel da.
Wenn immer ich in den letzten Jahren meine alte Heimat besuchte, bin ich
auch auf das Fibich-Bergl gewandert, um mich der vielfältigen
Kindheitseindrücke vor über 60 Jahren zu erinnern. Einiges von dem, was
ich dabei sehe, macht mich traurig. Wenn ich auch sehr gut weiß, dass
Jugenderinnerungen immer verklärt sind, denke ich doch jedes Mal bei mir:
Was ist bloß aus der einst so schönen Landschaft geworden?
Besonders beim Anblick „meiner“ Berge könnte ich auf der Stelle losheulen
– viele von ihnen sind von Steinbrüchen angebohrt und manchmal fast
abgetragen, andernorts ragen dafür Abraumhalden auf. Der Debus sieht heute
aus wie ein hohler Zahn; seine ganze Kuppe und die Türkenwiese sind
verschwunden. Auch bei der Kubatschke ist man mit einem Bergwerk schon bis
an die drei Fichten-Spitze heran. Und der Deblick auf der anderen
Elbeseite ist zu einem einzigen großen Steinbruch mit vorgelagerten
Abraumhügeln geworden.
Von den Feldern und Wegrändern sind die meisten Obstbäume entfernt worden.
Auch schützende Hecken und Steinmauern mussten den neuen riesigen Feldern
weichen. Viel guter Boden ist deshalb gewiss schon bei Unwettern bis zur
Elbe herab geschwemmt worden. Dafür ist an anderen Stellen, die früher
bewirtschaftet waren, hohes Gebüsch aufgewachsen, sodass man heute vom
Bergl aus die Elbe kaum noch sehen kann.
Und dennoch: Auch das Fibich-Bergl, dieser unscheinbare Hügel, bleibt für
mich liebenswerter, unwiederbringlicher Ort, dem ich verbunden sein werde,
solange ich lebe!
Lydia Radestock, im Juni 1997 |