Vaters Kriegsgefangenschaft in Sibirien

Als ich an einem trüben November-Abend wieder einmal an die alte Heimat dachte und dabei das Bild meines Vaters Franz Rosenkranz vor mir sah, da erinnerte ich mich: Er hat uns Kindern, meinem Bruder und mir, an solchen Abenden öfter von seiner sechsjährigen Sibirien-Zeit erzählt.

Gleich zu Beginn des 1. Weltkrieges, im Sommer 1914, geriet er in Serbien als österreichischer Rekrut mit vielen anderen Kameraden in russische Gefangenschaft.
Zunächst wurden sie dort in ein Gefangenenlager gebracht, wo sie sehr hungern mussten. Anschließend waren sie viele Tage in einem Güterzug nach Sibirien unterwegs; es ging bis zum Baikalsee.
Dort wurden die Gefangenen an Großbauern verteilt und mussten in der Landwirtschaft arbeiten. Vater hatte es hier sehr gut. Bei eisiger Kälte durfte er nachts auf dem großen Ofen neben der ganzen Familie schlafen. Von der Bauernfamilie bekam er zum Anziehen im Winter dicke Pelze, Handschuhe und Filzstiefel. Von den Kindern lernte Vater sehr schnell die russische Sprache (er hatte keinen deutschen Kameraden in der Nähe, mit dem er in seiner Muttersprache reden konnte); auch russisch lesen und schreiben brachten sie ihm bei.

Damals im ersten Weltkrieg war es in Russland offenbar so, dass die Gefangenen bei Familien untergebracht wurden. Hier mussten sie die Arbeitskraft der eingezogenen Söhne ersetzen, welche wiederum auf der Gegenseite bei Bauern als Gefangene arbeiteten. Mein Vater ersetzte also bei den Sibiriaken den Sohn, welcher zur gleichen Zeit damals als Gefangener in Österreich war und, wie sich herausstellte, zufällig in unserem Dorf und bei einem Bauern untergebracht war. Auch die sibirische Mutter, bei der er war, sorgte sich damals sehr um ihren Sohn.
Es war dies wohl ein weitaus menschlicheres Verfahren als dann 30 Jahre später, als auf beiden Seiten Millionen Gefangener in großen Lagern, Gulags, KZ ... elend sterben mussten.

Vater erlebte in Sibirien viel Merkwürdiges.
Im Winter war es oftmals über 45 Grad kalt. Die Pferde, mit denen er oft unterwegs war, kannten die Wege allein, selbst wenn Schneestürme tobten oder ihnen Wölfe bis in das Dorf folgten.
In den heißen Sommern gab es Sandstürme, welche ganz plötzlich auftraten. Da musste er lernen, sich auf ganz bestimmte Weise hinzuhocken, um sich wieder aus dem Sand befreien zu können. Einmal waren er und die Pferde ganz gelb von den Eiern, welche er eigentlich andernorts abliefern sollte und die bei einem solchen Sturm zu Bruch gingen. Auch von Fata Morgana, der Luftspiegelung, sprach er, die es doch bei uns daheim nicht gab.

Vater musste in Sibirien erst auf Pferden reiten lernen. Dort konnten es schon die kleinsten Kinder. Auch des Bauern Kamele sollte er reiten. Man hatte ihm aber nicht gleich gesagt, dass diese Tiere spucken. Deshalb wurde Vater zur Gaudi der Kinder beim Führen, Auf- oder Absteigen öfter völlig nass gespuckt.

Vater hat später erfahren, dass man während der Revolution in Russland die Familie des Großbauern (auch den inzwischen aus Praskowitz heimgelehrten Sohn) umbrachte, weil sie zu den „Weißen“ gehalten hatte.

Er erzählte uns auch, wie er in den Revolutionsjahren in Russland zwischen die Fronten des Bürgerkriegs geriet und schließlich 1920 über Omsk und Petersburg halb verhungert, vom Malariafieber geschüttelt, doch noch in die Heimat gelangte. Er war froh war, einigermaßen heil angekommen zu sein.

Leider gab es schon an der Grenze zur Heimat keinen schönen Empfang. Er wurde von den Tschechen, die hier inzwischen ihren eigenen Staat gegründet hatten, wie ein Verbrecher behandelt, nur weil er österreichische Soldat gewesen war und deutsch sprach.
Die Schikanen gingen auch später weiter - seine unterbrochene Lehre beim Obst-Import und -Export am Aussiger Güterbahnhof durfte er nicht fortsetzen. Überall hatte man nun Tschechen eingesetzt. Ihm blieb nur, eine Arbeit im nahegelegenen Steinbruch aufzunehmen.

Vater sagte viel später einmal: Die sechs Jahre in Sibirien und die beschwerliche Heimfahrt durch die Revolutionswirren waren nicht zu vergleichen mit seiner einjährigen Internierung 1945 - 1946 im tschechischen Lager Lerchenfeld bei Aussig. Dort lernte er beim Appell und bei der Zwangsarbeit in den Schichtwerken die Knute mit den Bleikugeln kennen!

Lydia Radestock, im November 2002

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