Vertreibung aus der Heimat am 17. Juli 1945 – unser
Schicksalstag
Jahrhunderte lang haben meine Vorfahren in Praskowitz
an der Elbe gewohnt, das Land urbar gemacht und ein gottesfürchtiges und
bescheidenes Leben geführt. Das alles war am 17. Juli
1945 vorbei.
Viel später erfuhr ich: Es war dies nicht nur für uns,
sondern für ganz Europa ein historischer Tag der besonderen Art - der
Beginn der Sieger-Konferenz von Potsdam:
Die „großen Drei“, also Winston Churchill, Harry Truman und Josef Stalin
„spielten“ hier bis 2. August Schicksal.
Mit dabei war für die Tschechoslowakei: Edvard Beneš, der selbsternannte
Präsident.
Beneš soll in den Folgetagen übrigens von den West-Alliierten zur Rede
gestellt worden sein, denn er hatte ja schon seit dem 4. Mai
eigenmächtig die "ethnischen Säuberung" durch Vertreibung und Ausraubung
der Deutschen in Gang gesetzt, weil er gut wusste: Stalin war sehr dafür.
Auch unsere Praskowitzer Vertreibung war also „wild“,
nicht vom Potsdamer Abkommen beschlossen:
Vom Mittagessen weg wurden wir an diesem Schicksalstag aus unserem Haus
Nr. 27 gejagt.
Den Hausrat, unsere Felder, Wiesen und Obstgärten, unser Vieh (Zwei Kühe,
eine Kalbe, eine Ziege, 5 Kaninchen, 8 Hühner, ein Hahn, zwei Schweine,
unser Hund Spitz, mein schwarzer Kater) – das alles musste zurückbleiben.
Wir durften den Tieren nicht einmal etwas Wasser reichen. Noch im
Hausflur nahm man uns unsere Betten und Decken ab.
Später erfuhren wir zu unserem Leid, dass unsere Tiere im Winter, nach
dem Austreiben der letzten Deutschen, zum Teil verhungert sind; die
Ziege erfror. Denn die neuen Besitzer hatten ja keine Ernte für einen
Wintervorrat eingebracht, und auch die Stalltür nicht richtig winterfest
gemacht.
Das aber war folgerichtig, da die nun bei uns im Dorf eintreffenden
tschechischen „Neusiedler“ in den meisten Fällen „entwurzelte“ Städter
waren und nicht die geringste Ahnung von der Landwirtschaft und
Viehhaltung hatten.
Unter ihnen gab es natürlich auch viele „Goldgräbernaturen“ – nur auf
schnellen Besitz, Raub und Ausplünderung … aus, grasten sie habgierig
auf der Suche nach leichter Beute die vormals deutschen Dörfer ab. Heute
nennt man so etwas wohl „Heuschrecken-Manie“ ...
Deshalb wurde unser uraltes schönes Fachwerkhaus dann auch von einem der
schnell wechselnden Besitzer fluchs abgerissen, um etwa darin vergrabene
Schätze zu finden – es gab ja genug neuere unbewohnte Gebäude.
Ich denke noch heute mit Grausen an diesen 17. Juli 1945 zurück:
Vom Hass der jugendlichen „Deutschen-Austreiber“ und ihren Schlägen
verfolgt wurden wir innerhalb kürzester Zeit auf dem Dorfplatz gebracht,
mussten uns dort vor aller Augen entkleiden und auf sehr peinliche Weise
durchsuchen lassen. Alle - auch die Frauen - standen dort lange Zeit
nackt und bloß.
Zu den hier die „Drecksarbeit“ leistenden Schindern muss gesagt werden:
es war die gleiche, meist fünfköpfige, halbwüchsig-bösartig-bewaffnete
Mörder-, Plünderer und Vergewaltiger-Bande, die schon seit Anfang Juni
1945 in unserem Dorf ihr Unwesen trieb.
Da die Vorgänge, wie wir später erfuhren, in allen Orten des
Sudentenlandes auf ähnliche Weise abliefen, nehme ich an: all diese
Terrortruppen wurden von Prag aus generalstabsmäßig geplant, instruiert,
bewaffnet, eingesetzt und gesteuert.
Sie hatten wohl ein einziges Ziel: alles zu tun, dass „die Deutschen“
verschwanden - auf welche Weise auch immer.
Auf dem Dorfplatz mussten wir alles was wir noch in unserem Rucksack
hatten: Papiere Geld, Sparbücher, Fotoapparate, Uhren, andere Wertsachen,
und oft selbst das Wenige abgeben, was man uns vorab noch auf einem
dürftigen Wisch zugestanden hatte – sogar persönliche Fotos, Andenken,
Kinderspielzeug … Nur das Allernötigste durften wir behalten.
Ich denke heute, es ging unseren Vertreibern damals nicht nur darum, uns
hinaus zu werfen und dabei sich und den neuen tschechischen Staates zu
bereichern.
Die ganze Sache war vielmehr so angelegt, dass wir wohl um jeden Preis
gedemütigt werden sollten - man wollte uns, wenn schon nicht allen das
Leben, so doch mit der Heimat auch unsere Identität rauben und dermaßen
entwurzelt „ins Reich“ treiben.
Ich hörte kürzlich, dass von Stalin heute Pläne bekannt sind, mit Hilfe
von Millionen verzweifelter Vertriebener in Deutschland Chaos und damit
eine „revolutionäre Situation“ zu schaffen, um damit die Grundlagen für
den Aufbau des Kommunismus (wie er ihn verstand und ja auch bei sich in
Russland praktizierte) zu legen. Die gleiche Taktik verfolgte er gewiss
auch (unter umgekehrten Vorzeichen: Gebiete menschenleer machen,
bodenständige Leistungsträger beseitigen …) für die Tschechei;
bekanntlich mit Erfolg, und (ironischerweise) Edvard Beneš als frühem
Opfer.
Unfassbar, dass die Westalliierten unter Ausblenden politischen
Verstands und aus purem Deutschenhass dieses doch eindeutig gegen ihre
Interessen gerichtete menschenfeindliche „Spiel“ mitmachten!
Ein paar Tage zuvor hatte ich bei der Flucht vor durch unser Dorf
streifenden vergewaltigenden Russen und Tschechen einen schlimmen Unfall
erlitten. Da ich danach nicht in einem Krankenhaus behandelt werden
durfte („Ärztliche Hilfe für Deutsche verboten!“) und mich durch diese
Verletzungen noch nicht schnell genug bewegen konnte, vermochte ich nun
den tschechisch gebrüllten Befehlen der Bewacher auf dem Dorfplatz nicht
schnell genug zu folgen.
Das Ergebnis war: ich wurde ich von den sadistisch-dümmlichen Helfern
der neuen Obrigkeit auch noch zusammengeschlagen und erlitt weitere
Kopfverletzungen. An den Folgen dieser Tage leide ich bis heute. Ich bin
deshalb seit Jahrzehnten schwerbeschädigt,
Als alle Dorfbewohner endlich beisammen waren, wurden
wir durch eine Tschechen-Kommission „ausgelesen“ – ihr gehörten an: der
seit 1920 im Ort lebende Böhme, Steinbrucharbeiter und neu ernannte „Bürgermeister“
Karl Sack und drei weitere aus Lobositz gekommene und uns nicht bekannte
Angehörigen des neuen „Siegervolkes“.
Die wenigen Tschechen, mit denen wir im Ort jahrelang friedlich gelebt
hatten, waren nicht dabei. Und so wurde dann
selektiert:
Nach rechts ging es zum Bahnhofs-Wartesaal für alle, denen man etwas
vorzuwerfen glaubte oder die für wert befunden wurden, für die neuen
Herren zu arbeiten. Sie wurden in der Folge zur Zwangsarbeit im
benachbarten Internierungslager Lerchenfeld eingeteilt; die männlichen
Jugendlichen (darunter Hugo Fritsch - 14 Jahre, Gustaf Schubert - 17
Jahre, Franz Beck - 17 Jahre, Otto Babinsky - 17 Jahre) jedoch kamen
nach Kladno in´s Kohlenbergwerk.
Alle diese Menschen sollten Grauenhaftes erleben. Wir haben viele von
ihnen niemals wieder gesehen, weil sie ermordet wurden oder an ihren
Verletzungen, Hunger oder Krankheiten gestorben sind.
Einige Ortsbewohner mussten auch zurückbleiben, um das verlassene Vieh
zu versorgen oder wichtige Betriebe, Behörden, Einrichtungen … an die
Tschechen übergeben und sie in all das einzuarbeiten.
Der Rest - Alte, Kranke, Frauen und Kinder - ging nach links, zum
sofortigen Abschub (das war das Wort, das die Tschechen damals benutzten)
nach „Kern-Deutschland“.
Diese „Glücklichen“ - ich war auch darunter - wurden dann schnurstracks
zum Bahnhof getrieben.
Auf dem Weg dahin musste ich noch den kleinen Handwagen, worin ich
meinen gehbehinderten Großvater gesetzt hatte, an den neuen
tschechischen „Bürgermeister“ Sack abgeben, und der Opa sich mühselig
allein weiterbewegen.
Am Bahnhof traf ich dann Bekannte aus anderen Dörfern der Umgebung,
darunter auch Onkel und Tante Robert / Emma Siegmund - Schiffer aus
Wannov. Sie hatten vorher ihren Elbkahn verlassen und an Tschechen
übergeben müssen. Beide erzählten uns später, dass auch sie von
jungendlichen „Roten Garden“ unter Schlägen, nur mit einem Rucksack voll
weniger Sachen, aus Kahn und Haus getrieben worden waren.
Wir alle wurden nun innerhalb kürzester Zeit auf dem großen Güterbahnhof
in Praskowitz in offene Kohlewaggons gesperrt, in denen schwarzer Dreck
den Boden bedeckte, um über die neue - freilich bisher von niemandem
festgelegte - Grenze gebracht zu werden.
Den folgenden Pfiff zur Abfahrt des Zuges werde ich
wohl mein Lebtag nicht vergessen!
Noch Jahrzehnte später fuhr ich - schreiend - aus dem Schlaf auf und
hörte immer wieder dieses Geräusch. Dennoch: Viele von
uns waren in diesem Moment sogar ein wenig erleichtert – lagen doch acht
qualvolle, von namenlosem Grauen bestimmte Wochen im Dorf hinter uns.
Was wir aber nicht wussten: Nun begann für uns eine lange Reise nach
nirgendwo, erwarteten uns neue Verfolgungen, Not und Elend, Demütigungen,
Trennung der Familien, und für viele - der baldige Tod. Denn: die
Torturen waren keineswegs beendet; jetzt ging es (auf andere Weise)
eigentlich erst richtig gegen uns Vertriebene los!
Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte – meine „Zugfahrt ins
Nichts“. Bis zur politischen Wende 1989 durften wir
dann in der in der DDR über all diese Dinge nur sprechen, wenn wir ganz
unter uns waren. Wir alle hatten als Umsiedler zu gelten: die „frischgebackene“
revolutionäre Obrigkeit tat offiziell wirklich so, als ob wir freiwillig
gegangen wären!
Man stelle sich das vor: Jeder wusste Bescheid über das, was geschehen
war, aber alle mussten darüber eisern schweigen. Die sich zu den neuen
Herren geschlagen hatten, taten das nur zu bereitwillig.
Hielt man sich nicht daran oder war unvorsichtig in der Wahl der
Gesprächspartner, war die „Staatssicherheit“ schnell zu Stelle – und das
hieß in den Nachkriegsjahren „ab nach Sibirien (und damit meist in den
Tod) oder wenigstens Bautzen (ei berüchtigtes Zuchthaus); später drohten
Gefängnisstrafen in Halle / Saale, Verlust des Arbeitsplatzes oder der
Karriere.
Leben in einer Diktatur eben … Bass erstaunt war ich
dann aber, als ich auch nach 1990 und unter den Bedingungen eines
demokratischen Staates weiterhin ein Tabu über dieses Thema verhängt
fand.
Dass es noch lange nach Kriegsende Ereignisse gab, die man nicht einfach
zusammenfassend mit dem Wort „Befreiung“ charakterisieren kann, weil sie
Millionen unschuldiger Opfer forderten, und dass diese Taten sehr oft
aus ganz anderen Gründen als dem verständlichen Rachebedürfnis
unterdrückter Völker geschehen sind ...: all das zu erwähnen dürfte mir
heute mindesten den Vorwurf einhandeln, eine „Ewiggestrige“ zu sein, zu
relativieren und damit die Naziverbrechen zu verharmlosen. Wie ja in
unserem Land immer sofort die „Faschismus-Keule“ als Totschlagargument
geschwungen wird, wenn Fakten und Argumente ausgehen!
Angesichts des immer selbstzerstörerischer (oder sagt man besser:
masochistischer?) werdenden „Zeitgeists“ in unserem Lande könnte mir (als
Angehöriger des „Tätervolkes“) vermutlich sogar der Vorwurf und die
Verfolgung wegen „Volkverhetzung“ drohen … und das allein dafür, dass
ich sage, was damals wirklich gewesen ist und ich mit meinen eigenen
Augen gesehen oder auf andere Weise leidvoll erfahren habe.
Sie glauben mir nicht? Werfen Sie einmal Ende Mai 2010 einen
aufmerksamen Blick in die Zeitungen: Man nimmt uns heute in Deutschland
sogar unsere jährlichen landsmannschaftlichen Pfingsttreffen übel und
betrachtet sie als bösartige Hetze gegen das Nachbarvolk.
Übrigens: Die „Beneš-Dekrete“, die all das (den Tod
von fast 250.000 Sudentendeutschen eingeschlossen) möglich machten, sind
noch heute in Tschechien gültig; meines Wissen wurde kein Tscheche wurde
für seine Gräueltaten gegen Deutsche je bestraft – alle sind damit ja
ausdrücklich amnestiert.
Im Gegenteil: diese Verfügungen werden mehr denn je mit Zähnen und
Klauen gegen jede Kritik verteidigt. Ein Beispiel: am 25. Februar 2004
ehrte das tschechisches Parlament mit großer Mehrheit diesen Mann mit
einem eigenen Gesetz, das nur aus einem einzigen Satz besteht: „Edvard
Beneš hat sich um den Staat verdient gemacht".
Willkommen in der Europäischen Union! Dreifach gleich
wurden und werden die Sudentendeutschen gestraft:
erst ausgeplündert, gefoltert, vergewaltigt, vertrieben oder ermordet,
dann zum Schweigen verurteilt und als „Umsiedler“ verhöhnt und
herumgestoßen,
und nun auch noch kollektiv und sogar erbhaft schuldig gesprochen am
eigenen und dem Leid Millionen anderer unschuldiger Menschen …
Gott vergib ihnen, was sie tun – ich kann es nicht!
Ob ich es noch erlebe, dass uns Gerechtigkeit zuteil wird?
Lydia Radestock, im Februar 2010 |