Die Vogelwiese in Aussig an der Elbe

In meiner alten Heimat, dem Elbetal im Sudetenland, wurde alljährlich im Frühling und im Herbst in den größeren Orten „Rummel gemacht“. Solche Ereignisse hießen bei uns, wie heute noch vielerorts in Sachsen, „Vogelwiese“. Wahrscheinlich sind sie hier wie dort aus früheren Schützenfesten hervorgegangen, bei denen die Leute mit Armbrüsten auf an hohen Stangen befestigten hölzernen Vögeln schossen. 

Im Herbst 1933 fuhren unsere  Eltern mit meinem Bruder und mir - als Belohnung für’s „Bravsein“ - einmal nach Aussig,  wo im Stadion etliche Schausteller ihre Gefährte und Buden aufgestellt hatten. Das war für uns Dorfkinder schon ein großes Ereignis, denn in Praskowitz oder in den umliegenden Gemeinden gab es ja sonst nur, meist zu verschiedenen Kirchenfesten, mal eine doppelseitige  Luftschaukel oder Ringelspiel und vielleicht noch die eine oder andere Bude mit Süßwaren, Kleinkram, Anziehsachen oder Pantoffeln. 

Was wir da alles auf der Vogelwiese zu sehen bekamen! Dutzende Fahrzeuge, Schaukeln, Kettenkarussels,  wo man auf mit langen Ketten befestigten Sitzen durch die Luft gedreht wurde ... Bei manchen Gefährt wurde einem schon vom Zusehen schwindelig!

Die Buden führten die unterschiedlichsten Sachen: Karamelisierte Erdnüsse, Zuckerwatte, Eis, Türkischen Honig (der wurde von einem großen Block in Papier abgeschabt), Plätzchen, Kuchen, Pfefferkuchenherzen mit weißer oder bunter Zuckerschrift, Bratwurst, Knacker mit Senf, saure Gurken aus dem Fass, Apfelsinen, Bananen ...  

Da war ein unaufhörliches Lärmen und Toben, und die verschiedensten Gerüche zogen durch die Luft. Zauberer und Gaukler boten ihre Künste an. Dann gab es noch ein Fass mit einem Gestell und einem großen Hammer - da hieß es: Haut den Lukas! Wer Kraft hatte, bekam hier per Hammerschlag einen Pfeil nach oben geschossen. Ein Leierkastenmann mit seinem Äffchen war auch auf dem Platz.       

An einigen Ständen, welche oft von neugierigen Zuschauern umlagert waren, konnten die meist jungen Männer ihre Schießkünste zeigen und für  ihre Freundinnen Papierrosen schießen oder andere Preise erringen. Vater hat damals an so einer Bude auch jedem von uns auch eine Kunstblume geschossen.  Dann gab es offene Buden, in denen man mit etwas Geschick aufgestellten Krimskrams mit Bällen oder Ringen erwerfen konnte. Vielerorts wurden auch Lose angeboten. Die Verkäufer schrieen um die Wette „Jedes Los gewinnt!“ -  dabei war das gar nicht wahr! Mir hätte ein bunter Ball gefallen, aber meine Lose waren fast alle Nieten. Nur ein Blechringlein bekam ich dafür. Auch mein Bruder hatte kein Glück mit seinen Losen.

Ein Mann hatte an einem Ring bunte Luftballons befestigt. Wenn man einen haben wollte, dann füllte er ihn auf Wunsch aus einer Flasche mit Gas und band ihn an einem Faden fest, damit man ihn auch halten konnte. Immer wieder flogen solche Ballons davon und verschwanden in den Wolken. Auch mein roter Luftballon entfernte sich ganz schnell, als ich nicht aufpasste und ihn los ließ. Dafür hatte ich aber noch mein Pfefferkuchenherz um den Hals hängen, das ich dann ganz fest hielt.

Es gab auch eine Geisterbahn - damit sind wir aber nicht gefahren! Denn da waren schaurige Fratzenbilder außen an die Kulissen gemalt. Wir durften dafür mit einem Ringelspiel kutschieren, welches von kleinen Ponys im Kreis herum gezogen wurde. Bei der Feuerwehr, wo mein Bruder und ich einen Sitzplatz fanden, gab es eine Messingglocke, mit der man bimmeln konnte. Auch eine Riesenrad-Runde durften wir noch fahren - auf der Bank hatten sogar meine Eltern neben uns Platz. Wenn man hoch oben war, konnte man von diesem Gefährt aus den ganzen Platz übersehen. 

Leider wurde es dann Zeit, mit der Straßenbahn zum Bahnhof zu fahren, damit wir noch den Zug nach Praskowitz erreichen konnten. Für uns war es ein ereignisreicher Tag.            

Als wir später „halbstark“ waren, gingen wir des öfteren mit einer ganzen Clique Mädels und Jungs zu diesen Vogelwiesen. Das war noch viel spannender als mit den Eltern. Besonders die abendlichen Touren mit Kettenkarussel und „Schiffsschaukel“ hatten es nun in sich: Den nebenherfliegenden Jungen im der Nachbarsitz erhaschen, schwungvolles Schaukeln zu zweit bis zum Überschlag ... Da galt dann vor allem „Mädel, halt die Röcke fest!“ 

Lydia Radestock, im Januar 2003

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