"Die alte Linde" - Jugenderinnerungen

Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen ist die große Linde auf dem Platz vor der Kirche in Praskowitz an der Elbe, unserem Dorf im Sudetenland, wo ich am 02.06.1924 geboren wurde. Ihr widme ich heute diese Zeilen:

Linde, was hast Du wohl in hundert Jahren schon alles erlebt und gehört ? Die Großeltern kannten Dich schon als jungen Baum. Mein Vater wurde 1894 an Dir vorbei zur Taufe in die Kirche getragen; als Kind spielte er unter Deiner Krone. Etwas später hast Du dann damals meine Eltern als glückliches Paar gesehen.

Linde, viel später als Du, 1924, erblickte ich das Licht der Welt und verbrachte viele Stunden meiner Jugendzeit bei Dir. Unsere Großmutter erzählte uns - meinem Bruder, meiner Cousine und mir - in Deinem Schatten und im Schatten anderer Bäume so manches Märchen oder von früheren Zeiten. Sie lehrte uns, die Natur und die Menschen zu achten.

Linde, als wir später etwas größer waren, spielten wir Murmeln, Hopse und Fangen bei Dir, tanzten im Sommer Reigen um Dich herum und haben auf Deiner Bank viele Lieder gesungen. Du sahst uns als Kinder zur ersten Beichte zum Pfarrer gehen; wir kamen festlich gekleidet am Sonntag mit den Eltern auf dem Weg zur Messe an Dir vorüber.

Linde, so manchen Brauch und viele Feste hast Du miterlebt. In einem Jahr war sogar einmal der Bischof zur Firmung da. Ein großes Ereignis war auch die feierliche Glockenweihe auf unserem Dorfplatz in Praskowitz am 12.05.1935. Etliche Jahre war nach dem Ersten Weltkrieg gesammelt worden, damit wieder zwei große Glocken für den Kirchturm erworben werden konnten - die alten waren ja 1914 für Kanonenkugeln eingeschmolzen worden. Die Dorfbewohner nahmen alle an der feierlichen Weihe der zwei mit Blumen und Birkengrün geschmückten Glocken teil. Anschließend wurden sie zur Kirche gebracht, im Kirchturm befestigt, und die Menschen im Ort lauschten auf ihren ersten Klang.

Linde, in den dreißiger Jahren gab es oft sehr trockene Sommer. Die Elbe hatte so wenig Wasser, dass wir Kinder bis hinüber zum anderem Ufer nach Libochowan laufen konnten. Weder ein Dampfschiff der Weißen Flotte noch ein Frachtkahn vermochte bei dem Wassermangel mehr zu fahren. Da holten wir Schulkinder mit unserem Oberlehrer Emil Kunze Wasser für Dich, die anderen damals kurz zuvor gepflanzten Linden auf dem Dorfplatz und auch für die Bäume und Sträucher der neuangelegten Parkanlage, welche an der Elbe entstanden war. Alles wurde in Ordnung gehalten, gehegt und gepflegt.

Linde, feierliche Prozessionen mit Pfarrer, Ministranten, dem Kirchenchor und Gemeinde gingen an Dir vorüber, die Jugend - Mädchen in weißen Kleidern, Jungen mit schwarzen Hosen und weißen Hemden - voran. Viele Fahnen hatten die Vereine dabei; auch die Blaskapelle und die große Trommel vergaßen sie nie. Die Feuerwehrleute mit ihren glänzenden Helmen und Knöpfen marschierten mittendrin. Jedes Fest wurde feierlich mit einer Messe in der Kirche begonnen. Menschen aus anderen Dörfern schlossen sich an. Es war ein gläubiges, fleißiges Volk.

Linde, wie oft konntest Du hören, wie sie bei Prozessionen für gute Ernten gebetet haben und dass kein Unwetter komme und keine Not. Sie hielten zusammen, wenn es schlimm kam bei Naturgewalten.

Linde, weißt Du noch: Bei Dir war zu jeder Jahreszeit immer etwas los! Es wurde gelacht, Spuk und Scherz getrieben, und es waren nicht immer alles Engel dabei. Mitunter geschahen auch böse Taten und Rauferei.. Wenn die Leute aus der Kirche kamen, erzählte sich dann Jung und Alt in Deinem Schatten, was es Neues in der Umgebung gab.

Linde, auch die "Schnarrjungen" versammelten sich drei Tage lang vor Ostern unter Dir, wenn die Glocken des Kirchturmes schwiegen. Dann zogen sie dreimal ratternd im Dorfe herum, um den Bewohnern das Morgen- ,Mittags- und Abendleuten zu künden. Gar manches kleine Geheimnis der Jungen wurde dabei um Dich herum ausgetauscht.

Linde, manch glückliches Pärchen hast Du abends gesehen - wie waren für die verliebten jungen Leute diese Stunden schön! Bei Dir habe ich heimlich mein erstes Küsschen vom Franzl aus Morwan bekommen. Von Sex, Pille und solchen Dingen wussten wir damals noch nichts. Die Eltern waren gar streng; um 10.00 Uhr musste ich abends zu Hause sein.

Linde, Brautpaare gingen am Tage zur Trauung in die Kirche hinein. Feierlich begann dann die Orgel zu tönen. Gar manchen Treueschwur hast Du danach im Sommer vernommen.

Linde, Du vernahmst aus der Kirche das Singen der Marienlieder zur Maiandacht und dazu vom Turme die Glocke erklingen. Und wenn die Turmuhr in Libochowan die Stunden ansagte - das hörtest Du ganz leise über die Elbe herüber mit an. Auch manches Konzert oder die Tanzmusik vom Elbe-Hotel drang bis zu Dir hoch. Von der Gaststätte "Fischmühle" kamen im Sommer aus dem Garten von der Freitanzdiele sogar Tango-Töne bei Dir an. Von der anderen Elbseite grüßte auch - schon seit Jahrhunderten - die Kamaiker Burg zu Dir herüber. Bis zur Böhmischen Pforte, durch welche die Elbe zu uns kam, und zur Spitze des Berges Lobosch konntest Du von Dir aus sehen.

Linde, im Frühling vernahmst Du das Elbe-Eis krachend zerbersten, wenn der Fluss aus seiner Erstarrung erwachte, sahst´ auf ihm weiße Dampfschiffe ankommen, beladene Kähne und Zillen vorbeifahren. Den Überfährer Matzke mit seiner Prahme kanntest Du noch. Sogar für die Stare und andere Vögel warst du da; sie kamen ja wieder von Jahr zu Jahr.

Linde, unzählige Male sind der Orientexpress auf seiner Fahrt von Berlin über Leipzig, Prag, Wien, Budapest, Sofia nach Konstantinopel und andere Züge auf dem Bahngleis am Hange unter Dir vorbeigesaust. Viele Sommergäste kamen mit Bahn und Auto in unseren schönen Ort, um die kleine romanische Kirche zu sehen. Auf Deiner Bank machten sie Rast, um dann gestärkt durch das Elbtal zu wandern und die besonders zur Baumblüte herrliche Gegend zu bewundern. Sie stiegen auch auf manchen der umliegenden Berge und schauten von oben herab.

Linde, den ersten Weltkrieg mit vielen Tränen und Sorgen der Menschen erlebtest du schon; damals war noch der Kaiser Franz Josef auf dem Thron. Meine beiden Großelternpaare in Praskowitz und Birnai mit ihren Höfen gehörten noch zum Land Österreich, bis nach dem Krieg der tschechische Staat gebildet wurde, dessen Bürger wir Sudetendeutschen nun wurden. Es dauerte lange, aber dann kamen wieder bessere Zeiten. Bei Festen und Feiern hast Du dann die Menschen mit verschiedenen Sprachen und Religionen beisammen gesehen.

Linde, im September 1938 wurde das Sudetenland zu Deutschland genommen und dabei so manches Unrecht begangen. Ein Jahr später ist der Zweite Weltkrieg mit seinen Schrecken gekommen. Nun war es vorbei mit Festen und Feiern! Wieder - wie schon 1914 - zogen die jungen Männer, manche gar Kinder noch, fort. Auch mein Bruder, keine achtzehn Jahre alt, musste zum Schluss mit in den Krieg. Als Matrose ist er dann aber nicht mehr zum Einsatz gekommen. Als er zurückkehrte, hatte er keine Heimat mehr und wusste nicht, wo wir waren, denn wir waren ja inzwischen vertrieben worden. Mancher ist nicht heimgekommen, hat seine Lieben und Dich nicht wiedergesehen. Sie haben ihr Leben für Wahnsinn müssen geben.

Linde, wozu, wofür, warum mussten unsere Männer in andere Länder marschieren? Auch dort wurde den Menschen viel Leid gebracht. Wir hatten doch bei uns für alle Platz! Fabriken, Bodenschätze, Wälder, Seen und gute Äcker zu reichen Ernten waren vorhanden. Es gab Handel und Wandel - warum musste nun auf einmal Schluss damit sein?

Linde, manch junge Frau und manch altes Mütterlein ging - wie zum ersten Weltkrieg - wieder weinend, Trost suchend, an Dir vorbei zur Kirche hinein, um Mann oder Sohn zu beklagen.
Liebe Menschen wurden von ihren Angehörigen mit Tränen in den Augen an Dir vorbei auf den Friedhof geschafft.

Linde, Bomber donnerten hoch über Dich drüber hin, um Dresden zu verbrennen und andere Städte zu zerschlagen, ihre Bewohner unter Schutt und Asche begrabend. Unser Ort kam durch großes Glück wie ein Wunder davon, denn einen abgestellten Munitionszug auf dem Bahngleis hinter dem Bahnhof hatte ein englisches Flugzeug schon mit Bomben beworfen. Sogar einen fahrenden Personenzug, Leute auf den Feldern und Fritschens Schimmel bei der Kartoffelernte beschoss dieser Flieger. Wie er sich dabei wohl gefühlt haben mag?

Linde, 1945 - nach dem Ende des zweiten Weltkrieges - sind dann im Sudetenland an den Bewohnern unendlich viele Grausamkeiten geschehen, Folterungen an Männern, Kindern, Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen ...
Viel Blut ist da geflossen, auch Du hast unschuldige Menschen leiden sehen. Es wurde nicht gefragt, wer Unrecht begangen hatte. Niemand konnte dem andern und dem Nachbarn helfen oder durfte etwas sagen, wenn wir in den Dörfern von durchziehenden Russensoldaten gejagt und von raubenden Tschechen überfallen wurden. Auch meine Familie und viele Verwandte waren betroffen, sogar unsere 80jährigen Großeltern verschonte man nicht. Die Cousine im Nachbardorf wurde im Gartenteich ertränkt, Mutters Brüder misshandelt. Am 31.07.1945 wurde beim Massaker an der Aussiger Brücke meine Tante halb tot geschlagen, sodass sie einige Tage später an den Folgen verstarb.

Linde, die arbeitsfähigen Männer, Frauen und sogar Kinder aus unserem Ort, der gesamten Umgebung und überall im ganzen Sudetenland hat man in dieser Zeit in Lager wie Lärchenfeld bei Aussig zur Zwangsarbeit verschleppt, wo dann viele umgekommen sind. Auch mein Cousin Heinz ist dort verschollen; er war erst 20 Jahre alt.

Linde, wir Deutsche waren Freiwild geworden! Während wir am 30.05.1945 des Nachts wieder einmal vor marodierenden Soldaten und tschechischen Plünderbanden flüchten und uns verstecken mussten, fiel ich im Finstern unsere steile Bodetreppe herunter und verletzte mich schwer; drei Tage war ich besinnungslos.

Linde, kein Arzt, keine Klinik war damals für uns Deutsche frei. Notdürftig wurde ich mit anderen Verletzten von einem ehemaligem Sanitäter versorgt und wenigstens so versteckt, dass ich bei den vielen noch folgenden Gewalttaten nicht mehr belästigt werden konnte. Trotzdem hatte man keine Ruhe, denn die Angst, entdeckt zu werden, war immer da. Weil meine Mutter einige Tage später eines Nachts während eines solchen Überfalls mein Versteck nicht verraten wollte, wurde auch sie von einem betrunkenem Russen schwer misshandelt, mit dem Stiefel getreten, ihr Goldzahn gewaltsam ausgerissen, die Vorderzähne eingeschlagen, Wange und Hinterkopf verletzt ... Die Tschechen in seiner Begleitung warfen mit einem großem Messer nach ihr und verletzten sie dadurch noch mehr, andere raubten und plünderten im Haus. Mein Vater musste in unserer Stube, neben dem damaligen tschechischen Bürgermeister Karl Sack auf einem Stuhl sitzend, zusehen, was geschah und wie meine Mutter dann blutend vor ihm lag. Auch meine 80jährigen Großeltern bekamen Prügel ab. Dann wurde Vater fortgebracht und mit anderen Dorfbewohnern, die auch die Verstecke ihrer Frauen und Töchter nicht verraten wollten, in einem Keller schlimm misshandelt. Inzwischen hatte meine Mutter blutend fliehen können. Unterwegs hörte sie die zwölfjährige Tochter unseres Nachbarn, welche sich nicht rechtzeitig verbergen konnte, bis auf die Straße hinaus schreien: Der vom Bürgermeister, welcher die leichten Opfern nachspürenden Gewalttäter bei ihrer Suche von Haus zu Haus begleitete, auf sie aufmerksam gemachte Russe vergewaltigte das Mädchen furchtbar. Das Flehen der Großmutter des Kindes, sie doch zu schonen, ließ diese Menschen kalt.

Linde, das war nur eine von vielen schrecklichen Nächten für unser Dorf. Zahlreiche junge Frauen wurden vergewaltigt, andere Bewohner misshandelt und schwer verletzt, die Wohnungen ausgeraubt. Das ging so lange, bis Herr Klausnitzer hinter dem Dorf mal ein Russenauto anhielt und erzählte (denn er sprach russisch), was im Dorf geschieht. Auch seine Frau war im Keller mit den anderen Deutschen festgehalten und misshandelt worden, weil sie ihre Töchter nicht preisgeben wollte. Nachdem sich diese Russen angesehen hatten, was passiert war, kam von Aussig her ein russischer Offizier und befreite unsere Leute. Denn solche Übergriffe waren verboten.

Linde, das hat uns der Krieg eingebracht ? Wofür, warum, für wen mussten wir büßen? Es war bitter: Ausgeraubt, geschändet, misshandelt, verwundet, Väter oder Söhne erschossen oder erschlagen, Familien getrennt, Eltern, Kinder und Geschwister verloren ...
Am 17.07.1945 um die Mittagsstunde mussten wir uns dann - vom Hass der Bewacher und ihren Schlägen verfolgt - innerhalb kürzester Zeit auf dem Dorfplatz sammeln, uns entkleiden und durchsuchen lassen. Man nahm uns Geld, Sparbücher, Papiere und Wertsachen ab; nur das Nötigste konnten wir behalten. Weil ich nach dem Unfall noch nicht schnell genug war, wurde ich von den Unmenschen zusammengeschlagen. An den Folgen dieser Tage leide ich bis heute.

Linde, anschließend wurden wir zum Bahnhof getrieben. Auf dem Weg dahin musste ich den kleinen Handwagen, worin ich meinen gehbehinderten Großvater gesetzt hatte, an Bürgermeister Sack abgeben, und der Großvater sich mühselig allein weiterbewegen. Von vielen Dörfern her wurden auf dem Güterbahnhof in Praskowitz an der Elbe von da ab tagtäglich 90 bis 100 Menschen in offene Viehwagons gesperrt und über die neue Grenze nach Deutschland gefahren.

Linde, Du hast miterlebt, wie die Alten, Verwundeten, nicht arbeitsfähigen Menschen von Haus und Hof, aus dem Ort und von Dir fortgejagt wurden von Orten, an denen schon unsere Ahnen einst friedlich mit Menschen verschiedener Sprachen und Religionen zusammen gelebt haben. Die arbeitsfähigen von ihnen wurden zunächst zurückgehalten; sie erlebten schlimme Zwangsarbeit oder mussten bleiben, um die Tschechen in Wirtschaft, Fabriken, Industrie ... einzuführen, denn sie waren ja jetzt die Herren. Vieles, was einst unsere Vorfahren geschaffen und aufgebaut hatten, wurde in dieser Zeit sinnlos zerstört.

Linde, auf der langen Fahrt ins Nichts, die dann folgte, bekamen wir anfangs keine Aufnahme in den Orten, in denen unser mit Tausenden von Leuten besetzter Zug hielt. Unterwegs wurden wir dann oft von Russen überfallen, welche nach jungen Frauen suchten. Auch Polen kamen und nahmen uns noch das Letzte fort. Mit Mühe und Not erreichten wir schließlich auf überfüllten Zügen - von Angermünde über Berlin kommend - Lachstett bei Naumburg/Saale, wo wir Bekannte zu treffen hofften. Mehrmals mussten wir streckenweit laufen, da es durch schadhafte Schienen nicht weiterging. An einer Brücke bei Muldenstein ließ man die Flüchtlinge nur etappenweise herüber. Dann plötzlich wurde sie zwischen von den Russen gesperrt; keiner durfte mehr vorbei. So verloren Mutter und ich meine Großeltern. Wir sahen sie nie wieder.

Linde, wir könnten Dir viel darüber erzählen, was wir unterwegs erlebt haben - mussten oft betteln um Wasser und Brot. Bei den Bauern wurden wir meistens abgewiesen, denn sie hatten ja selber kaum etwas, weil um Berlin herum doch vorher Kampfgebiet und viel vernichtet war. Endlich, auf einem großen Gut bei Naumburg-Lachstedt, hatten wir beide die erste Bleibe gefunden. Doch die schwere Feldarbeit (Erbsenernten) war uns so kurz nach den vielen Misshandlungen kaum möglich. Nun konnten wir wenigstens in der Küche helfen, bis wir später in Hohnsdorf bei Halle eine Stube für uns fanden und nach meinem Bruder und Vater suchen konnten.

Linde, mein Bruder hatte inzwischen eine Aufnahme in Königshütte bei Mitterteich in der Oberpfalz gefunden, wo er heute noch mit seiner Familie lebt. Nach einem Jahr Zwangsarbeit bei den Tschechen im Lager Lärchenfeld kam mein Vater dann zu uns zurück; er war krank und durch die erlittenen Grausamkeiten für immer gezeichnet. Bald darauf erhielten wir in einem großen Barackenlager in Diemitz bei Halle/Saale eine Stube für die Familie.

Linde, wir hatten noch vieles zu meistern, schwere Krankheiten, Typhus und Not zu ertragen, uns in eine neue Umgebung einzufügen, wo es ganz andere Sitten und Bräuche gab ...
Die Jahre waren nicht leicht; wir mussten uns mühselig wieder alles schaffen, was wir verloren hatten, Neues lernen, fleißig arbeiten. Ich habe Anschluss und einen Mann in Halle/Saale gefunden, zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, geboren. Nachdem wir im Juli 1957 nach Eisenhüttenstadt umgezogen waren, konnte ich wegen der Nachkriegsereignisse und den daraus entstandenen gesundheitlichen Folgen nicht wieder arbeiten gehen. Leider ist mein Mann bald danach mit 43 Jahren verstorben und ich stand mit meinen beiden Kindern allein. Nun sind auch sie groß und haben selbst wieder Kinder.

Linde, viele Jahre durften wir Dich nicht sehen. Ich habe meinen Kindern und Enkeln aber manchmal von Dir und der Heimat erzählt und schon vor Jahren aus meiner Erinnerung begonnen, über Praskowitzer Begebenheiten und Bräuche zu schreiben. Manchmal hattest wohl auch Du es schwer, Stürme, Wolkenbrüche, Schnee, Frost und Kälte hieltest Du aus, der Blitz streifte Dich schon. Eine Jahrhundertwende machtest Du einst mit, nun geht es bald auf die zweite zu. Du stehst ja noch bis heute, bist inzwischen auch alt und Dein Umfang ist weiter geworden, hast manche Narbe erhalten ...
Unter Dir wandeln jetzt andere Leute. Ob Du ihre Sprache verstehst und sie Dich so verehren wie wir? Auch Du könntest uns doch manches erzählen!

Linde, nach 45 Jahren konnte ich Dich und unsere alte Heimat endlich einmal wieder sehen, und auch nach 50 Jahren besuchte ich im Juni 1995 mit einer Gruppe ehemaliger Dorfbewohner anlässlich eines Schülertreffens unseren alten Heimatort Praskowitz an der Elbe. Unser erster Weg war an Dir vorbei auf den Friedhof, um der Verstorbenen zu gedenken. Wir gingen dann überall hin, wo wir einst als Kinder glücklich waren; auf dem "Fibichbergl" erinnerten wir uns gemeinsam an unsere Jungendzeit und manche schöne, aber auch traurige Erlebnisse in unserem Ort. Und dann wanderten wir zum Güterbahnhof und gedachten der Vertreibung vor 50 Jahren.

Linde, mit tränenden Augen mussten wir sehen, was inzwischen aus unserer einst so schönen Heimat geworden ist: Der Debus und die umliegenden Bergen sind zu riesigen Steinbrüchen verkommen. Am Hang des Paterberges, wo wir uns einst als Kinder zur Heuernte herunter rollen ließen und das Echo vom Zirkowitzer Berge abfragten, wächst jetzt ein Nussbaum aus den Ruinen unserer ehemaligen Schutzhütte empor. Riesenfelder wurden in der bergigen Umgebung angelegt, schützende Hecken und Obstbäume entfernt, sodass bei Unwettern der gute Ackerboden übers Bahngleis in die Elbe geschwemmt wird. Die alten Leute wussten schon, warum sie Hecken und Steinmauern gegen Erosionen anlegten.

Linde, der Ort Praskowitz ist heute nicht mehr sehenswert, notdürftig wird zusammengehalten, was einst so blühend und sauber war. Viele Gebäude, auch mein Elternhaus, sind abgerissen. Der Nussbaum auf dem Hof, unter dem uns, meinem Bruder, meiner Cousine Christel und mir, im Sommer die Großmutter so manches Märchen erzählte, ist umgehauen. Auch in die Schule auf dem Dorfplatz gehen keine Kinder mehr. Mühle, Bäckerei, Konditorei, Fleischerei, Geschäfte, Gasthäuser, Fremdenpension "Haus zur Heimat", Kindergarten - all das gibt es nicht mehr. Nur eine Behelfsverkaufsstelle im Gemeindeamt haben sie jetzt. Es wurden allerdings auch einige Häuser neu gebaut; besonders Gartenanlagen mit Datschen sind in der Umgebung entstanden. Vom Kriegerdenkmal des ersten Weltkrieges sind die Marmortafeln mit den Inschriften der Gefallenen und Vermissten entfernt; nur die Lebensbäume stehen noch daneben. Und was haben sie aus dem Gasthaus zur Krone gemacht? Überm großem Saal ist oben auf dem Dach noch die Krone, das Wahrzeichen von einst, zu sehen. Die Kastanien und der Wirtshausgarten sind verschwunden. Auch die großen Kastanien vor dem Wasserbassin sind abgeholzt worden und die Bank davor ist weg. Viele Kindheitserinnerungen waren damit verbunden ...
Aufgefallen ist uns, dass man immerhin die beiden Kreuze an der Hauptstraße zu den Dorfeingängen renoviert hat.

Linde, die Gaststätte "Fischmühle", einst ein schönes Tanzlokal mit Freitanzdiele im Garten, umgeben von hohen Kastanien, steht leer und ist fast eine Ruine geworden. Das feine Hotel an der Elbe ist verkommen, den schönen Park und die Liegewiese mit der Badeanlage gibt es nicht mehr. Am Ufer führt jetzt eine Fernstraße entlang, und wegen einer hohen Mauer kann keine Überfähre oder ein Dampfschiff der Weißen Flotte mehr in unserem Orte anlegen wie früher.
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Linde, Deine Bank ist verschwunden; die Kirche neben Dir verfällt, ins Dach ist ein großes Loch gerissen. Kein Gesang, keine Glocke erklingen von ihr her zu Dir. Der Friedhof hinter der Kirche, wo unsere Ahnen begraben sind, verkommt, die um Kirche und Friedhof führende große Steinmauer verfällt. Viele Leute, welche Du damals gesehen hast, müssen nun in fremder Erde ruhen. Auch meine Eltern und Großeltern gehören dazu.

Linde, wir trugen seelischen Schaden und andere Leiden davon. Mancher, auch ich, hat sich davon nicht wieder erholt. Wir Sudetendeutschen mussten mühsam erst nach Vater, Bruder, Verwandten und Freunden fragen, weil wir nun in alle Winde zerstreut sind. Auf allen Erdteilen zwischen Nord- und Südpol leben viele unserer Heimatleute jetzt. So auch meine Cousine: Bis nach Aztec in Neu Mexiko (USA), wo sie nun mit ihrer Familie lebt, hat es sie verschlagen.

Linde, meinst Du nicht auch, dass man jeden Menschen friedlich in seiner Heimat leben lassen sollte?. Kannst Du Dir all die Grausamkeiten, die auch weiterhin überall auf der Welt geschehen, erklären? Immer noch werden Leute aus ihrer Heimat vertrieben, Waffen erzeugt, Atombomben getestet ... Wer weiß, was sonst noch überall ausprobiert wird! Menschen, vergesst den Hass, lasst endlich auf der ganzen Welt die Waffen schweigen. Bekämpft den Hunger, besiegt die Krankheiten, erhaltet die Natur, steigt auf die Berge, taucht in die Meere hinab und hebt dort die gesunkenen Schiffe, fahrt zu den Sternen oder sonst wo hin - aber hört auf mit Euren Grausamkeiten! Und lasst die Verbrechen den sühnen, der sie begangen hat, und nicht nach Jahren oder Jahrzehnten die Kinder Unschuldiger oder ganze Völker es tun. Was können sie für des einzelnen Verbrechers Taten?

Linde, ich habe heute denen vergeben, die mir und den Meinen Böses getan haben, aber ich möchte nicht, dass es jemals vergessen wird - damit so etwas nie wieder geschieht. Viel Hoffnung darauf habe ich freilich nicht. Der Grund dafür drückte Albert Einstein treffender aus, als ich es kann, als er einmal schrieb: "Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher."
Oder sollte er sich getäuscht haben?

Lydia Radestock, im Juli 1995

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