Gackern im D-Zug

Die Nachkriegsjahre waren schwer.

Besonders schwierig war es für uns nunmehrige klapperdürre Stadtbewohner, zusätzlich zu der knappen Markenzuteilung noch Lebensmittel zu bekommen. Es gab vier Möglichkeiten:
Entweder musste man sie teuer auf dem schwarzen Markt erwerben, also „hamstern“.
Viele Städter haben ja damals ihre letzten Habseligkeiten, die sie vor den Bombenangriffen gerettet hatten, auf diese Weise zu den Bauern aufs Land gebracht.
Oder man musste im Urlaub bei den Bauern auf dem Land zur Ernte auf den Feldern arbeiten gehen. Statt Geld gab es hierfür immer Naturalien, weil ja auch die Landleute damals kein Bares hatten.
Oder man konnte an den Wochenenden auf abgeernteten Feldern stoppeln gehen, also nachlesen.
Oder man verhungerte eben, wie es damals Hundertausende taten.
Egal, was man aber tat, um zu überleben – nicht selten wurden einem dann die mühselig erworbenen Lebensmittel auf dem Bahnhof von der kontrollierenden Polizei wieder abgenommen.



Eine dieser damaligen „Fress-Fahrten auf’s Land“ möchte ich hier einmal beschreiben.
Es war im Hungerjahr 1947, und ich reiste mit meinen Eltern drei Wochen lang nach Mecklenburg zu Verwandten – es galt, die Kartoffelernte mitzumachen, um zu überleben.
Als Lohn der Mühen bekamen wir danach dafür Eier, zwei Hühner, einen Hahn, Quark, etwas Getreide, Gemüse und auch einige Kartoffeln. Es war wie ein Wunder …

Hocherfreut fuhren wir mit unseren Reichtümern in der Folge im überfüllten D-Zug von Rostock nach Halle zurück. Den Korb mit den Hühnern hatten wir mit einem dünnen Tuch zugebunden und an unseren Füßen stehen.
Dann passierte es: als unterwegs der Schaffner in das Abteil kam und unsere Fahrkarten kontrollieren wollte, fing plötzlich eine Henne an zu gackern, und obendrein krähte auch noch der Hahn dazwischen.
Uns war das sehr peinlich, aber der Schaffner war gemütlich und meinte: „Nun gibt‘s auch noch ein Ei!“ Er und die anderen Fahrgäste wollten dann natürlich sehen, was los war, und wir mussten den Korb lüften. Und tatsächlich: da war ein warmes Ei unter der Henne.
Die ganze Fahrt über waren alle Insassen gespannt, ob nun die zweite Henne auch noch ein Ei legen würde. Sie tat es nicht.

In Halle auf dem Bahnhof waren wir sehr glücklich, ohne Polizeikontrolle bis zum Barackenlager zu gelangen, in dem wir damals wohnten.

Die Hühner haben uns dann noch mit etlichen Eiern versorgt. Wir hatten vor der Baracke einige Beete, wo sie in einer Art Gehege untergebracht werden konnten.
Es sind schließlich ganz zahme Tiere geworden. Abend kamen sie, wenn sie freigelassen worden waren, um noch etwas Grünes zu fressen, und gingen allein zur geöffneten Haustür hinein.

So haben wir damals überlebt.
Ich schreibe das, weil ich weiß, dass derzeit jährlich weltweit 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel weggeworfen werden. In der Europäischen Union sind das jedes Jahr pro Person durchschnittlich 179 Kilogramm.
Kann sich da heute einer noch vorstellen, wie wir einst gehungert haben?



Lydia Radestock, im März 1997

zurück