www.oma-im-netz.de

Von Andreas Wendt

Königs Wusterhausen (MOZ) Die 85-jährige Lydia Radestock ist im Internet keine Unbekannte. Selbst Menschen aus Südafrika und England haben ihr einen Gruß im virtuellen Gästebuch hinterlassen. Unter www.oma-im-netz.de veröffentlicht sie ihre Erlebnisse, Geschichten und Gedichte.

Und wieder ein Absturz. Eben noch ist die Oma im Netz, kurz darauf eine Fehlermeldung und aus die Maus. "Da tauchen dann so viele englische Wörter am PC auf - und Englisch kann ich doch noch nicht", sucht Lydia Radestock nach einer Erklärung für die Probleme mit Windows Vista. Dabei hat sie doch sonst für fast alles eine Lösung: Wenn beispielsweise der Fahrstuhl in ihrer Seniorenwohnanlage des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) in Königs Wusterhausen (Dahme-Spreewald) "bockt". Dann betätigt die 85-Jährige nicht mehr den Alarmknopf, weil sie die rettende Hilfe am anderen Ende der Leitung sowieso nicht versteht, nein, sie lässt sich mit voller Wucht auf ihren Rollator plumpsen - und der Lift setzt seine Fahrt fort. "Gut, dass ich nicht leichtgewichtig bin", ist Oma Radestocks Fazit zu diesem Erlebnis. Nachzulesen wie viele andere Geschichten im Internet.

Doch mit dem Internet klappt es seit Tagen nicht. Trotz DSL, Windows Vista und Flachbildschirm. "Das sind keine seniorenfreundliche Programme", schimpft ihr Sohn Klaus, der die schwarze Kiste auf dem Schreibtisch wieder zum Laufen bringen soll. Enkel Jörg, sonst quasi der Ersthelfer in Sachen Computer, ist noch für Wochen beim Auslandspraktikum in Shanghai. Immerhin schickt er der Oma regelmäßig Fotos von seinem China-Aufenthalt.

Die Enkel von Lydia Radestock haben ihrer Oma die eigene Homepage eingebrockt. Schon 1994 macht sie die erste intensive Bekanntschaft mit dem PC, nachdem ihr die Tipperei auf der Schreibmaschine, Typ "Erika", zu anstrengend wird. Damals wohnt sie noch in Eisenhüttenstadt (Oder-Spree), doch 2003 zieht sie in die Nähe ihres Sohnes Klaus in die ASB-Wohnanlage.

Das Schreiben liegt der alten Dame. "Das Internet ist auch die beste Form, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. Wir haben ihr dazu geraten", blickt Sohn Klaus zurück. Inzwischen unterhalten ernste und heitere Geschichten aus der alten und der neuen Heimat, Familiengeschichten, Gedichte und Naturerlebnisse auf der Homepage die immer größer werdende Fangemeinde. Im Gästebuch haben weit mehr als 500 Menschen einen Gruß an Lydia Radestock hinterlassen. "Ich habe viele Menschen über das Internet kennen gelernt. Manche haben mich sogar schon mal hier besucht", freut sich die Seniorin. Selbst in England und Südafrika wurde man auf die Oma im Netz aufmerksam. "Man wird direkt süchtig", sagt sie. Jeden Morgen schaue sie nach Post, "wenn der PC funktioniert." Manchmal bekomme sie auch sehr lustige Sachen, die sie an andere weiter schicke.

An amüsanten Momenten steuert sie auf ihrer Seite selbst eine Menge bei - beispielsweise Tatsachenberichte darüber, wie es 1936 um die sexuelle Aufklärung bestellt war. "Wir hatten einmal unterwegs an der Elbe bereits benutzte Verhütungsmittel gefunden. Diese Gummis sahen aus wie Luftballons; deshalb versuchten wir natürlich, sie aufzublasen", schreibt sie im Netz. Doch gerade noch rechtzeitig sei "der Trödel Ernst" vorbeigekommen, habe den Unsinn der Mädels gesehen und gerufen: "Schmeißt bloß das Zeug weg und spült euch tüchtig Eueren Mund mit Essigwasser aus!"

Bevor Texte der 85-jährigen Dame online gehen, dürfen Sohn und Enkel einen Blick darauf werfen. "Mein Sohn ist sehr kritisch", sagt Lydia Radestock. Enkel Jörg stellt sie dann - derzeit von China aus - online. Sogar eine Webcam blickt vom Bildschirmrand auf die stark gehbehinderte Rentnerin hinab. "Die nutze ich beim Telefonieren", erklärt die 85-Jährige. Gelegentlich, wenn es ihr mal nicht so gut geht, setzt sie sich auch vor die Kamera, damit die Verwandtschaft aus der Ferne ihren Gesundheitszustand beurteilen kann.

Das Internet ist ihr wichtig, aber nicht alles im Leben. Vor dem Haus wächst ihr Nussbaum und blühen die Blumen auf ihrem Beet. Mit den übrigen 14 Senioren in der Wohnanlage in der Zernsdorfer Straße trifft sie sich dienstags und donnerstags zu Kaffee, Gymnastik und Rommee. Das war es dann aber auch. "Übers Internet kann ich mich hier mit niemandem unterhalten", bedauert sie.

Originalartikel: www.moz.de/index.php/Moz/Article/id/286894

Mittwoch, 08. Juli 2009 (11:39)

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