Stiefmütterchen für den Seelenfrieden
Euch
fehlt das Überragende,
der hochgestielte Blick.
Ihr seid bescheiden Fragende
und fügt euch dem Geschick.
Seid dankbar Überdauernde,
wenn Lachen rings verblüht.
Ihr läutert das Erschauernde
zu Trost und Traumgemüt.
Ihr sammelt das Verlorene
im Auge wunderbar.
Ihr seid aus Samt Geborene
unsterblich lieb fürwahr.
Diese Zeilen des Dichters Heinz Tölle über die Stiefmütterchen haben mich
tief berührt. Denn ich mag diese schönen Frühjahrsblumen von ganzem Herzen.
Auch späten Frost überstehen sie immer und erfreuen uns dann vom Frühling
bis in den Sommer hinein mit ihren samtenen Blüten in den Farben weiß,
braun, dunkelrot, dunkelblau, hellblau, gelb gemustert …
Meistens werden sie als erste Blumen des Jahres auf Rabatten oder Balkonen
angepflanzt, und auch in Friedhöfen als Grabpflanzen …
In den Städten kann man sie auf den Anlagen in Parks und auch Vorgärten
bewundern.
Sogar einen feinen zarten Duft strömen sie aus.
Blicken Sie mal genauer hin: Wenn man sie anschaut, könnte man sich an ihren
dunkleren oder helleren Ornamenten in der Blütenmitte ein lachendes Gesicht
vorstellen.
An diesen Blumen habe ich meinen Kindern und Enkeln, als sie klein waren,
die Liebe zu den Lebewesen dieser Erden anerzogen – so, wie ich es von
meiner Mutter und Oma gelernt habe.
Ich erzählte ihnen, dass sie ein Anglitz haben – wie wir auch. Dass man die
Blumen nur anschauen oder daran riechen sollte, und sie nicht mutwillig
abreißen darf, weil ihnen das genau so weh tut wie uns Menschen – und sie
dann welken, wie wir auch.
Das man Pflanzen (und Tiere) aber auch nutzen könne, weil man sich ernähren
oder kleiden muss, aber im richtigen Maße und niemals verschwenderisch oder
gar grausam.
Denn es macht viel aus für die „Menschwerdung“ kleiner Leute, dass sie so
früh als möglich Achtung vor der Natur empfinden – ja mehr noch: sich als
Teil der Schöpfung und nicht über ihr stehend betrachten. Nur dann werden
sie, wenn sie groß sind, Seelenfrieden erlangen und auch zur Nächstenliebe
fähig sein.
In meiner Familie hatte ich Erfolg mit diesen Lektionen:
Meine Tochter ist heute Blumenliebhaberin, pflegt ihren Hausgarten mit
großer Sorgfalt und liebt als „Hasenfrau“ Kaninchen über alles. Wichtiger
noch: als anerkannte Hautärztin wirkt sie im Dienste der Mitmenschen.
Auch mein Sohn entwickelte sich zum Natur- und deshalb auch zum
Menschenfreund, und ist aus diesem Grund „wald-dolmetschender“ Förster
geworden.
Und auch alle Enkel haben die Ehrfurcht vor dem Leben verinnerlicht …
Gleichzeitig komme ich mir sehr einsam vor, wenn ich die vielen Nachrichten
über Roh- und Gemeinheiten naturentfremdeter Menschen hören oder lesen muss.
Der „Zeitgeist“ ruft nach immer größer, immer mehr, immer schneller, immer
lauter, immer billiger … Und alle folgen brav - wie die Lemminge dem
Leittier in den Abgrund.
Ich muss dabei immer an Mark Twain denken, der einmal schrieb: „Als sie das
Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie die Geschwindigkeit.“
Und habe das Lied vom „Narrenschiff“ des Sängers Reinhard May im Ohr.
Nimmt die Zahl der „Durchgeknallten“ zu?
Es scheinen mir derzeit mehr und mehr zu werden, die das als Kind von ihren
Eltern oder Großeltern niemals vermittelt bekamen und unvergesslich erfahren
konnten, weil die Familien zerfallen:
die Schönheit eines alten Baumes, die Wärme feuchten Bodens unter den
Fußsohlen, den Duft einer Blüte, die jubilierende Lerche über reifendem
Korn, den Herzschlag eines geliebten Haustiers …
Sie alle, die in betonernen Städten über grauen Asphalt laufen und viel zu
viel Zeit mit leblosen Maschinen verbringen, die da Fernseher, Computer,
Handy oder Spielkonsole heißen, welche den fürsorgenden und geliebten
Menschen niemals ersetzen können, haben ein Problem:
Entfremdung – von der Natur und damit auch vom Mitmenschen und von sich
selbst!
Was wird uns die Zukunft bringen?
Sollten wir nicht einmal über ein Quäntchen weniger, kleiner, langsamer,
leiser .. nachdenken?
Lydia Radestock, im Mai 2009 |