Überleben 1947

Seit 1946 wohnte ich, aus meiner alten Heimat vertrieben, mit meinen Eltern in Hohnsdorf bei Halle/Saale in einer Stube im ehemaligen Gutshaus.
Um etwas zu essen zu bekommen, habe ich damals eine Zeitlang bei einer Bauernfamilie Näharbeiten verrichtet und dann endlich in Köthen eine Arbeit in einem Kunstgewerbebetrieb gefunden. Es wurden dort aus hartem und weichem Igelit Körbchen, Briefmappen, Lätzchen und Taschen gefertigt.

Für die Briefmappen bekamen wir zurechtgeschnittene Platten, deren Ränder wir dann lochen und mit weichen Igelit-Streifen zusammen heften mussten.
Die Lätzchen und Taschen erhielten wir auch geliefert und hatten sie mit schmalen Igelitstreifen zusammenzufügen und künstlerisch zu gestalten.

In der Nachkriegszeit war man froh, überhaupt eine Arbeitstelle nachweisen zu können, um von der Gemeinde eine Lebensmittelkarte zu bekommen. Dazu gab es dann noch eine Punktkarte für Kleidung - ein Mantel, ein Kleid, Blusen, Arbeitskittel und ein Paar Schuhe. Holzsandalen gab es frei zu kaufen (wenn man welche kaufen konnte!).
Wir mussten uns damals ja nach und nach alles erst wieder neu anschaffen, denn man hatte uns bei der Vertreibung nur das gelassen, was wir am Körper trugen, und diese Kleidung war inzwischen unbrauchbar geworden.

Die Anfahrt nach Köthen/Anhalt war für mich immer sehr beschwerlich. Zuerst bin ich mit einer anderen Frau 3½ Kilometer durch zwei Dörfer gelaufen, um dann an einer zugigen Ecke um 6.00 Uhr auf einen alten klapprigen Omnibus zu warten, der übrigens nicht mit Benzin, sondern mit Holzgas fuhr. Oftmals hatte der Bus Verspätung, weil er auf dem schadhaften Kopfsteinpflaster unterwegs eine Reifenpanne erlitt oder durch russische Militärkontrollen aufgehalten wurde.

Meine Arbeitszeit begann eigentlich um 7.00 Uhr früh. Ich hatte auf Antrag (auch für so etwas musste man damals Anträge stellen!) jedoch nur eine Erlaubnis zur Fahrt mit einem zweiten, später eintreffenden Gefährt erhalten. Der Grund war: Die wenigen Busse sollten nicht überlastet werden! Deshalb bin ich meist „schwarz“ mit dem ersten Bus gefahren. Wenn man dabei vom Kontrolleur erwischt wurde, musste man außer der Buskarte, welche man ja sowieso hatte, zusätzlich 5.00 Mark Strafe zahlen. Die weiblichen Kontrolleure hatten meistens Erbarmen mit mir. Aber ein junger Mann in umgeänderter Leutnantsuniform war unerbittlich. Dabei verdienten wir doch sehr wenig - manchmal kaum 18.00 Mark die Woche - und die Buskarte kostete schon 5.00 Mark.
Kam man aufgrund dieses Dilemmas zu spät, wurde das vom Lohn abgezogen. Man mußte dann auch noch mit dem späteren 19.00 Uhr - Bus (statt um 17.00 Uhr) wieder heimfahren.

Unser Arbeitsraum wurde immer erst frühmorgens abwechselnd von uns Arbeiterinnen geheizt. Bei ungünstigem Wetter mußten wir in der verqualmten großen Stube aushalten. Mit Erkältungen und Hustenanfällen wechselten wir uns deshalb meistens ab. Eine energische ältere Frau nahm uns Mädels damals alle in die Gewerkschaft auf – um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, und wegen der Urlaubsplätze, meinte sie. Das Glück, einen Urlaubsplatz zu bekommen hatte ich aber dort nie. Vielleicht war auch der Grund, dass ich nicht in die Deutsch-Sowjetische Freundschaftsgesellschaft eintreten wollte – ich empfand das als Hohn; meine bisherigen Erfahrungen mit diesen „Freunden“ und „Befreiern“ waren einfach zu negativ gewesen. Und nun sah ich: Uns war alles weg-genommen worden, alle waren klapperdürr, und die Russenfrauen gingen alle sehr gut gekleidet und wohlgenährt daher. Gut – sie waren die Sieger, aber Freunde?

Das mit der Kleidung war damals ein Problem, aber irgendwie schlug man sich durch: Ein Paar derbe Schuhe, vier Paar Strümpfe, einen Mantel und ein Stoffkleid bekam ich auf meine Punktekarte. Hemden und Schlüpfer strickte ich mir aus Seilergarn, das wir uns von den Garbenbändern auf den Feldern stibitzten.
Zu dem täglichen Fußmarsch bis zum Bus wickelte ich mir immer alte Sackreste um die Stiefel, welche ich mir zum Glück noch erhalten hatte – die guten Stücke mussten geschont werden. Im Sommer bin ich auch manchmal barfuß gegangen. Schlimm war es damit immer, wenn auf der Straße der Schnee geschmolzen und alles pitschnass war.

An ein Erlebnis aus der damaligen Zeit erinnere ich mich besonders: Wir, eine andere junge Frau und ich, mussten immer am außerhalb von Hohnsdorf gelegenen Friedhof vorbeigehen. Weil wir zu zweit waren, hatten wir keine Angst. Wenngleich: Die Käuzchen hörten sich manchmal schaurig an, wenn sie um die Wette riefen.
Eines nebeligen Herbstabends, es war schon dunkel, kam plötzlich ein in ein Bettlaken eingehüllter großer Mann von der Friedhofsmauer herunter gesprungen. Er landete direkt vor unseren Füßen.
Wir waren beide ahnungslos und deshalb ziemlich schockiert.
Es stellte sich dann heraus, dass er uns diesen bösen Streich spielte, weil die andere junge Frau ihn zurückgewiesen hatte. Er hat das noch ein zweites Mal auf ähnliche Weise versucht.
In der Folgezeit kam uns an solchen dunklen Abenden immer meine Mutter mit einer Laterne entgegen!


Lydia Radestock, im Januar 1996

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