„Wende-Zeit“

Kürzlich wurde unter dem Motto „Briefe an eine 20 Jährige“ eine Leseraktion über die politische Wende vor zwei Jahrzehnten initiiert.

Denn: Am 3. Oktober 1990 geschah etwas, was noch ein Jahr vorher weder West- noch Ostdeutsche, Amerikaner, Russen, Franzosen, Polen … für möglich gehalten hatten - die formale Vereinigung der beiden seit 1949 getrennten deutschen Staaten.

Es wird mir für das epochale Wendeereignis aber nicht so sehr dieser Termin in Erinnerung bleiben als vielmehr der spektakuläre „Auslöser“ dieses politischen Erdbebens - also der Tag des „Mauerfalls“ am 9. November 1989.

Seit den (gefälschten) Volkskammer-Wahlen und speziell dem Gorbatschow-Besuch zur Feier des 40. Jahrestages der DDR begann man sich 1989 bekanntlich mit vielerlei - und immer friedlichen - Aktionen in allen Bezirken gegen die unhaltbar gewordenen Zustände aufzulehnen.
In dieser Zeit verließen auch mehr und mehr (vor allem junge) Leute über die inzwischen offenen ungarische Grenze das Land – sie hielten die muffige Enge nicht länger aus, wollten die Welt sehen …

Der Höhepunkt dieser Entwicklung war das Alexanderplatz-Ereignis von 500.000 Menschen am 4. November 1989 - die größte nicht staatlich gelenkte Demonstration in der Geschichte der DDR.
Der Schriftsteller Stefan Heym drückte die damalige Stimmung so aus:
„Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all' den Jahren der geistigen, wirtschaftlichen, politischen Stagnation, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen!“

Ich war in jenen bewegten Tagen mit einer Freundin, Edith Kutzner, von Eisenhüttenstadt aus gerade in einen 14-tägigen FDGB-Urlaub in Stolberg / Harz gestartet. Unser Quartier befand sich in der Oberförsterei der Stadt.

Zuerst konnten wir es nicht richtig verstehen und glauben, was da am Morgen des 10. November 1989 im Radio gesendet wurde - bis uns dann auch unsere Wirtsleute davon erzählten.

Als wir beim nachfolgenden Spaziergang durch die Stadt kamen, sahen wir überall auf den Plätzen diskutierende Gruppen von Leuten stehen.
Die ganz eiligen Stolberger und auch viele Urlauber stürmten gleich in die Linienbusse, oder holten ihre Trabbis aus der Garage und fuhren damit gen` Westen, um sich die begehrten 100 D-Mark „Begrüßungsgeld“ zu holen.
Am nächsten Tag wurden zum Mittagstisch in der Gaststätte wahre Wunder erzählt, was man alles gesehen und erlebt hatte.

Bei unserer Rückfahrt kamen wir auf dem Umsteige-Bahnhof in Berga / Kelbra kaum in unseren D-Zug nach Frankfurt / Oder, weil nebenan der Zug in Richtung Berlin zur Abfuhr bereit stand; die Drängelei war fürchterlich.
Als wir unterwegs aus dem Fenster blickten, sahen wir auf den Straßen vieler Orte, wie sich lange Schlangen von DDR-Autos, in der Mehrzahl „Trabants“ und „Wartburgs“, in Richtung Berlin bewegten.

Übrigens:
Wenn ich dieser bewegenden Tage gedenke, frage ich mich manchmal
„Was ist seither aus all der Euphorie, diesem Mut, jener Tatkraft geworden?“
Wird sich irgendwann erneut ein Stefan Heym einfinden, der Aufbruch aus einer wiederum blockierten Gesellschaft verkündet?


Lydia Radestock, im September 2010

zurück